Kapitel 79 ~ Perfidia

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An manchen Tagen hetzte Aurelia von einem Termin zum Nächsten. Sie hatte sich nie darüber Gedanken gemacht, wie sie eines Tages ihren Beruf und ihre Familie unter einen Hut bekommen würde. Weshalb hätte sie es auch tun sollen? Vor Gaius hatte sie nie eine ernsthafte Beziehung gehabt und noch vor ein paar Monaten waren ihre einzigen Verpflichtungen gesellschaftlicher Natur gewesen – wie es sich für eine römische matrona gehörte. In Geschichtsbüchern wirkte Politik so einfach: eine Aneinanderreihung von Ursachen, Anlässen, Ereignissen und Folgen. Aber nichts war weiter von der Realität entfernt als dieses Schema. Die Ereignisse warteten nicht brav, bis das Vorherige abgeschlossen war, sondern klopften alle gleichzeitig an ihre Tür und verlangten im gleichen Maß nach ihrer Aufmerksamkeit. Mittlerweile unterhielt sie sich mit seinen Kindermädchen häufiger als mit ihrem Sohn. Hoffentlich würde sie Julius mehr Aufmerksamkeit widmen können, sobald der Senat in seine Sommerpause ging. Schon bald würde sie das erste Gebäude ihrer Universität einweihen können, aber ihnen mangelte es immer noch an Professoren. Sie hatte bereits mit einigen Kandidaten für die Bereiche Rhetorik und Politik gesprochen, aber bis jetzt war sie unsicher, wer für diese Stellen am geeignetsten war. Am liebsten würde sie die Eröffnung der Universität verschieben, bis alle Gebäude errichtet und Professuren vergeben waren. Vielleicht sollte sie dies in der nächsten Senatssitzung anklingen lassen.
Seit ihrem letzten offenen Gespräch hatte Clemens kein weiteres Wort über ihre Schwangerschaft verloren. Er bedrängte sie auch nicht mehr Gaius zu informieren und sie war dankbar, dass sie sich auf Clemens verlassen konnte. Seine Anwesenheit und Ehrlichkeit beruhigten ihre Nerven.
Plötzlich drangen aufgeregte Kinderstimmen an ihr Ohr. Neugierig geworden erhob sie sich von ihrem Schreibtisch und trat ans Fenster. Direkt unter ihrem Fenster spielten Julius, Lucius und Titus Fange. Eine Weile beobachtete sie die Jungen lächelnd und es wärmte ihr Herz Julius' Lachen zu hören. Schweren Herzens wandte sie sich von dem Anblick ab, kehrte zu ihrem Schreibtisch zurück und widmete sich der Auflistung der Getreidelieferungen aus Ägypten. Es grenzte an ein Wunder, dass alle Schiffe wohlbehalten in Ostia angekommen waren und die Speicher gut gefüllt waren.
„Bitte verzeiht die Störung, Herrin", sagte eine nervöse Stimme und ließ Aurelia von ihren Unterlagen aufblicken. Sie wollte Nara schon ungeduldig vertrösten, als sie den Gesichtsausdruck ihrer Zofe bemerkte. Beunruhigt winkte sie Nara zu sich und erkundigte sich sanft nach dem Grund für deren Nervosität.
„Es geht um Eure Schwägerin Agrippina, Herrin", wisperte das Mädchen und zog ein kleines Fläschchen aus einer Tasche ihres Kleides. „Heute Morgen hat sie mir diese Tinktur für Euch gegeben. Sie meinte, wenn ich Euch wirklich dienen will, soll ich Euch dieses Mittel morgen während Eures Treffens mit Euren Schwägerinnen verabreichen. Aber ich habe das Siegel wiedererkannt und ich finde, Ihr solltet es wissen. Es stammt von einer Gallierin, die in einem heruntergekommenen Viertel Gifte zusammenmischt"
Mit spitzen Fingern nahm sie Nara das kleine Fläschchen ab und hielt es prüfend gegen das Licht. Leise bedankte sie sich bei dem Mädchen und als es sich langsam entfernte, spielte Aurelia gedankenverloren mit dem kleinen Flakon. Ruckartig erhob sie sich, rief Prunia zu sich und erteilte ihrer Sekretärin eine Reihe von Befehlen.

Eine Stunde später saß Clemens ihr gegenüber und drehte den Flakon nachdenklich in seinen Händen.
„Und diese Sklavin ist glaubwürdig?", wollte er wissen und Aurelia seufzte. Nervös spielte sie an ihrem Ohrring. Natürlich hatte sie sich diese Frage in den letzten Stunden immer wieder gestellt. Aber sie kannte Nara und Agrippina. Sophia hatte nur an dem Trank riechen müssen, um ihn zu erkennen. Der Verwendungszweck war eindeutig.
„Sie hat mich nicht angelogen", murmelte Aurelia. „Kannst du diese Angelegenheit bitte dennoch für mich diskret überprüfen?"
Wortlos erhob sich Clemens und verließ ihr Arbeitszimmer. Unruhig versuchte Aurelia sich auf den Bericht des Statthalters von Afrika zu konzentrieren, aber die Worte verschwammen vor ihren Augen und sie konnte den Sätzen keinen Sinn entnehmen. Zwei weitere Stunden vergingen, bis sich ihre Tür ein weiteres Mal öffnete und Clemens mit finsterem Gesichtsausdruck eintrat. Seine Miene war Antwort genug. Stöhnend vergrub Aurelia den Kopf in ihren Händen und versuchte ihre Gefühle herunterzuschlucken.
„Bring den Unbestechlichsten deiner Prätorianer zu mir", befahl sie kalt. „Wir müssen in dieser Angelegenheit sehr klug vorgehen"

Der nächste Tag war ihr erster freier Tag in diesem Monat und bis gestern hatte sie sich sehr auf diesen Tag gefreut. Melancholisch legte Aurelia den Kopf in den Nacken und genoss das Gefühl, welches die warmen Sonnenstrahlen auf ihrer Haut hinterließen. Es hätte so ein schöner Tag sein können, dachte sie sich. Dann schüttelte sie ihre Gefühle ab und setzte unbeirrt ihren Weg fort. Ihre Freundinnen hatten sich bereits im Pavillon eingefunden und sie spürte Clemens' Anwesenheit in ihrem Rücken. Sie war nicht allein. Sie hatten einen Plan.
Mit ihrem strahlendsten Lächeln begrüßte sie ihre Freundinnen und setzte sich unbekümmert neben Agrippina. Schnell fragte sie, ob sie etwas verpasst hätte und schon begannen Flavia und Agrippina ihr den neuesten Klatsch zu erzählen. Clementina lauschte aufmerksam, während Julia immer wieder ein weiteres, pikantes Detail in die Ausführungen einfließen ließ. Nach einer Weile erschien eine Sklavin an ihrer Seite und reichte ihr einen Becher, den Aurelia sorglos entgegennahm. Weil sich gerade die Aufmerksamkeit der anderen Frauen auf Flavias Anekdote über die Frau eines belanglosen Senators konzentrierte, beugte sich Aurelia unauffällig näher zu Agrippina.
„Ich möchte mich bei dir für dein Verständnis bedanken", meinte sie mit gesenkter Stimme. Überrascht blinzelte Agrippina sie an und Aurelia schenkte ihrer Schwägerin ein dankbares Lächeln. Dann fuhr sie fort: „Ich weiß, dass du an meiner Stelle anders handeln würdest. Aber ich danke dir von ganzem Herzen, dass du meine Entscheidung respektierst, auch wenn sie nicht der deinen entspricht. Du bist eine wahre Freundin, Agrippina"
Agrippinas Maske bekam Risse. Vollkommen ruhig schwenkte Aurelia den Weinkelch in ihren Händen und führte den Becher langsam zum Mund. Kurz bevor die Keramik ihre Lippen berührte, schlug Agrippina ihr den Kelch aus der Hand. Klirrend schlug der kunstvoll gearbeitete Becher auf dem Boden auf und zersprang in tausend kleine Teilchen, während die blutrote Flüssigkeit in den Fugen der Fliesen einen Ausweg suchte. Überrascht blickte sie in Agrippinas dunkeln Augen, die vor Panik geweitet waren. Die Tränen, die in ihnen schimmerten, ließen sie noch größer wirken. Clementina und Flavia stießen einen kleinen Schrei aus und winkelten die Füße an, damit ihre Schuhe nicht Aurelias Becherinhalt aufsogen.
„Warum hast du das getan?", zischte Julia entgeistert und starrte ihre Schwester verständnislos an. Agrippina ignorierte sie, glitt von ihrem Stuhl und sank vor Aurelia auf die Knie. Ihre Brust hob und senkte sich wie nach einem Sprint. Kalt blickte Aurelia auf ihre Schwägerin herab und konnte in Agrippinas Augen lesen, wie sie allmählich verstand, dass sie in eine Falle getappt war.
„Es tut mir leid", wisperte sie atemlos. „Ich hätte dich niemals hintergehen dürfen. Du bist meine Freundin, meine Schwägerin, meine Schwester. In all den Jahren hast du meine Geheimnisse bewahrt, meine Fehler korrigiert und mich vor allen Gefahren beschützt. Ich dachte, es sei nun an mir dich zu beschützen. Aber das gibt mir nicht das Recht für dich zu entscheiden. Bitte verzeih mir"
„Schwester, was hast du getan?", schrie Julia entgeistert, weder Aurelia noch Agrippina beachteten sie. Ausdruckslos musterte Aurelia ihre Freundin, der sie so sehr vertraut hatte und von der sie so enttäuscht war.
„Was du geplant hast, kann nicht verziehen werden", antwortete Aurelia eisig und aus Agrippinas Gesicht wich schlagartig jegliche Farbe. Ihre Atmung wurde sogar noch panischer. Dann fragte sie, den Blick gesenkt, um einen letzten Rest an Würde bemüht, ob Aurelia vorhabe sie hinrichten zu lassen.
„Nein, Agrippina", sagte Aurelia gefühllos, ergriff ihr Kinn, damit sie ihr in die Augen blicken musste und beugte sich zu ihr herunter. „Ich werde keine Entscheidung über dein Schicksal fällen. Das überlasse ich Gaius, sobald er aus Britannien zurückkehrt. Also bete zu jedem Gott und zu jeder Göttin, die du kennst, dass er dir vergeben kann. Denn bis das der Fall sein wird, wirst du dich auf deinem Landgut aufhalten. Du wirst das Gelände nicht verlassen. Du wirst keinen Besuch empfangen, nicht einmal einen Brief wirst du ohne meine Erlaubnis schreiben. Hast du mich verstanden?"
Wimmernd nickte Agrippina. Angewidert ließ Aurelia ihre verräterische Freundin los und erhob sich.
„Was ist mit Lucius?", fragte Agrippina mit zitternder Stimme. „Wirst du ihn mir wegnehmen?"
„Ich bin nicht wie du, Agrippina. Ich werde ein Kind nicht von seiner Mutter trennen", gab sie spitz zurück, drehte ihr endgültig den Rücken zu und ging ohne Hast aus dem Pavillon. Sie drehte sich nicht um. Nicht einmal Agrippinas kleines Schluchzen konnte sie erweichen. Clemens löste sich aus dem Schatten, nickte seinen Männern zu ihm zu folgen und seine Schritte hallten dumpf von den Wänden des Pavillons. Agrippinas Schrei berührte sie nicht mehr. Für sie war Agrippina bereits gestorben.

AureliaWo Geschichten leben. Entdecke jetzt