Kapitel 63 ~ Problema insoluta

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10. März 27 n. Chr.

Obwohl sich der Winter langsam aus Rom zurückzog und der Frühling seine kleinen Vorboten zu ihr schickte, fühlte Agrippina keine Freude. Wenn sie morgens geweckt von dem fröhlichen Zwitschern der Vögel vor ihrem Fenster die Augen aufschlug und sah, dass sie auf Germanicus' Seite des Bettes schlief, fühlte sie nichts. Doch anders fand sie nachts keinen Schlaf. Sein Tod verfolgte sie seit beinah zehn Jahren in ihren Träumen und quälte sie in jeder wachen Stunde. Vor ihrer Familie und Fremden war sie stark und ließ sich ihren Kummer nicht anmerken, doch sobald sie allein war, brach sie unter ihrer Trauer zusammen. Es fiel ihr immer noch schwer zu glauben, dass ihre gemeinsame Zeit vorbei war.
Ihr einziger Trost waren ihre Kinder. Ihre wunderschönen, kleinen Mädchen zauberten ihr immer wieder ein Lächeln ins Gesicht und jeder Blick auf ihren kleinen Gaius erfüllte ihr Herz mit Stolz. Er war seinem Vater so ähnlich. Eines Tages würde er ein großer Mann werden, wenn die Schicksalsgöttinnen ihm dies gewährten und seinen Lebensfaden nicht vor seiner Zeit kappten.
Dagegen versetzte ihr jeder Besuch ihre beiden ältesten Söhne Nero und Drusus einen Stich ins Herz. Die beiden waren so schnell erwachsen geworden und nun hatte Agrippina das Gefühl nicht mehr von ihnen gebraucht zu werden. Sie trafen ihre eigenen Entscheidungen und lebten mit ihren Frauen zusammen. Doch am meisten machte Agrippina zu schaffen, dass sie ihre ältesten Söhne nicht mehr verstand. Als Kind hatte Drusus Nero vergöttert und zu ihm aufgeblickt, nun entdeckte sie in den Augen ihres zweiten Kindes jedes Mal, wenn sie über den Älteren sprachen oder mit ihm beisammen zu Tisch lagen, Gefühle, die Agrippina zutiefst beunruhigten. Aber sie hatte keine Kraft sich um das zerrüttete Verhältnis ihrer Söhne zu kümmern. Ihre jüngeren Kinder brauchten sie mehr. Früher oder später würden Nero und Drusus sich wieder vertragen. Wie immer.
An der Tür klopfte es zaghaft. Hastig setzte sich Agrippina auf und wischte sich die letzten Spuren der vergangenen Nacht aus dem Gesicht. Nach ihrer Aufforderung trat eines ihrer Mädchen ein und reichte ihr eine ordentlich gerollte Schriftrolle. Interessiert nahm Agrippina das Schriftstück entgegen, erkannte das Siegel und brach es geschickt auf. Sie hatte nicht gedacht, dass Tiberius so bald wieder in Rom sein würde. Vielleicht war ihm Capri doch auf Dauer zu langweilig. Mit gerunzelter Stirn las sie die Einladung und hätte am liebsten das Mädchen gemeinsam mit ihrer Absage aus dem Zimmer geschickt. Doch stattdessen nickte Agrippina, rollte den Brief zusammen und ließ ihre Mädchen ihre Arbeit verrichten. Es würde ein langer Tag und ein langer Abend werden. Aber Agrippina war nicht dazu erzogen worden sich unter der Bettdecke zu verkriechen, nur weil alles gerade kompliziert und unangenehm war.

Am Rande ihrer Kräfte zog Agrippina die Tür hinter sich zu und im gleichen Augenblick schwand das Lächeln aus ihrem Gesicht, welches sie für alle anderen zur Schau trug. Sehnsuchtsvoll blickte sie zu ihrem von der Abendsonne angeleuchteten Bett und seufzte. Wie gern würde sie sich einen Moment ausruhen. Aber die tief stehende Sonne erinnerte sie an ihre Pflicht. Wenn der Tag endlich vorbei war, würde sie sich in ihrem Bett verkriechen. Doch jetzt musste sie sich vor den Spiegel setzen, ihre Mädchen rufen und sich für den Abend herrichten lassen.
Kurz darauf rauschte Agrippina aus ihrem Zimmer und verabschiedete sich von ihren Töchtern. Als Gaius in seiner Toga praetexta auf der Treppe auftauchte, kam er ihr mit einem Mal so viel älter vor. Ihr kleiner Junge würde in wenigen Monaten fünfzehn werden, eigentlich hätte er schon längst zum Mann und vollwertigen römischen Bürger erklärt werden müssen. Aber dafür fehlte ihm sein Vater und der pater familias, das Oberhaupt ihrer Familie, hatte sie noch nicht vollzogen. Wie hätte Tiberius dies auch tun können, während er sich auf Capri vergnügte und die Geschicke Roms anderen überließ? Vermutlich hatte er dort anderes im Sinn als ihren Sohn zum Mann zu erklären. Vielleicht hatte er Gaius auch einfach vergessen.
„Möchtest du mich nicht begleiten, Gaius?", fragte Agrippina nachdenklich und Gaius warf seinen drei jüngeren Schwestern einen nervösen Blick zu. Dann nickte er und verabschiedete sich von den drei sichtlich beleidigt aussehenden Mädchen. Für einen Moment wunderte sich Agrippina, welche Pläne ihre Töchter schon wieder mit ihrem Bruder ausgeheckt hatten. Gaius konnte ihnen einfach nichts abschlagen. Fast nichts.
Fordernd streckte Agrippina die Hand nach ihrem Sohn aus, die er ohne zu zögern ergriff. Gemeinsam verließen sie das Haus, stiegen in die Sänfte und ließen sich schweigend zu Tiberius' Residenz nur einen Steinwurf von ihrer eigenen Villa entfernt tragen. Kaum waren sie aus der Sänfte gestiegen, wurden die hölzernen Flügel des schweren Eingangsportals für sie geöffnet. Stumm folgte Gaius ihr über die Schwelle und durch das Atrium. Als sie die Halle fast schon zur Hälfte durchquert hatten, erschien Livilla auf der Treppe und rief: „Agrippina, warte bitte auf mich"
Vor ein paar Jahren war Livillas Mann Drusus, Tiberius' einziger Sohn, an einer Krankheit plötzlich gestorben, der kurz darauf ebenfalls einer ihrer Zwillinge, Germanicus Gemellus, erlag. Livilla hatte rührend ihren Mann und ihren Sohn gepflegt, weshalb sie noch weiter in Tiberius' Achtung gestiegen war. Nachdem die beiden verstorben waren, hatte Tiberius darauf bestanden, dass sie weiterhin mit ihrem verbliebenen Sohn Tiberius Gemellus in seinem Haus wohnen blieb.
Wie ein Jungvogel flatterte Livilla die Treppe hinunter und eilte auf Agrippina zu. Blitzschnell zog Livilla Agrippina in ihre Arme und wisperte ihr hastig ins Ohr: „Rühre weder die Speisen noch die Getränke an"
Was sie nicht sagte, hörte Agrippina nur zu deutlich. Sie war nach wie vor ein Problem, weil sie immer noch in aller Öffentlichkeit Fragen über den Tod ihres Mannes stellte und nichts hasste Tiberius mehr als ungelöste Probleme. Nur hatte Agrippina kein Interesse daran gelöst zu werden. Wer würde ihre Kinder vor diesem furchtbaren Menschen beschützen, wenn sie nicht mehr da war?
Mit einem Lächeln auf den Lippen schluckte Agrippina ihre Übelkeit hinunter und drückte Livilla einen Kuss auf die Wange.
„Tante", grüßte Gaius und schenkte Livilla ein charmantes Lächeln. Überrascht richtete Livilla ihre Aufmerksamkeit auf Gaius, als hätte sie seine Anwesenheit eben erst bemerkt und schluckte, bevor sie ihn ebenso herzlich an sich zog wie Agrippina. Livilla war nun schon so lange die Schwiegermutter von Agrippinas Sohn Nero, dass Agrippina manchmal vergaß, dass Livilla die Schwester ihres verstorbenen Gatten war.
Nur halbherzig lauschte Agrippina dem Wortwechsel zwischen Gaius und Livilla, der sich hauptsächlich um Gaius' erstaunliche Ähnlichkeit zu Germanicus drehte. Warum hielten die Menschen dies immer wieder erstaunlich? Gaius war nun mal der Sohn seines Vaters. Wem sollte er sonst ähneln? Marcus Porcius Cato Minor?
Bevor Agrippina die Geduld verlieren konnte, erschien ein Prätorianer in der Tür und bat sie ihm zu folgen. Automatisch streckte Agrippina ihre Hand nach Gaius aus, die er fröhlich ergriff.
Zu ihrer Überraschung war die Anzahl der eingeladenen Gäste sehr begrenzt – Tiberius hatte nur den engsten Kreis der Familie eingeladen. Also nur seine Mutter Livia, Agrippinas Schwiegermutter Antonia Minor, Livilla und Tiberius Gemellus, Agrippinas Söhne Nero und Drusus mit ihren Ehefrauen Julia und Aemilia Lepida, Agrippinas Schwager Claudius und sie selbst. Abgesehen von ihr hatten sich bereits alle auf ihren zugewiesenen Plätzen gelegt. Erfreut begrüßte Tiberius die Neuankömmlinge und Agrippina zog Gaius mit sich auf die einzige freie Liege, die zwischen Tiberius und Nero stand. Als Aemilias Blick auf Gaius fiel, beugte sie sich zu ihrem Drusus und flüsterte ihm eifrig etwas ins Ohr. Für einen Moment verdunkelten sich Drusus' Augen, dann lachte er fröhlich auf und begrüßte seinen jüngeren Bruder. Gaius ließ die Hand seiner Mutter los, lief zu seinem Bruder und wechselte ein paar freundliche Worte. Sobald er sich von ihnen abwandte, begann Aemilia erneut aufgeregt zu tuscheln.
Gaius' strahlendes Lächeln klärte für einen Moment Agrippinas Gedanken und sobald er sich neben ihr niederließ, entspannte sie sich ein wenig. Doch als ein Diener ihr kurz darauf einen Weinkelch reichte, fiel ihr Livillas Warnung ein und Agrippina stellte den Kelch auf den Tisch, während sie an den banalen Tischgesprächen teilnahm. Der erste Gang kam und der Zweite und Dritte, doch Agrippina rührte keine der Speisen an. Auch ihr Kelch berührte kein einziges Mal ihre Lippen. Nach einer Weile registrierte sie, wie Tiberius immer wieder missbilligend in ihre Richtung blickte. Warum hatte er nicht einfach auf Capri bleiben können? Nach dem vierten Gang bat Tiberius sie höflich endlich das Essen anzurühren. Doch Agrippina lehnte höflich ab und im nächsten Augenblick zog Livilla Tiberius' Aufmerksamkeit auf sich, die zu seiner anderen Seite lag.
„Geht es dir nicht gut, Mutter?", fragte Gaius leise und die tiefe Besorgnis in seiner Stimme rührte sie. Warum konnten nicht all ihre Söhne sein wie er? Sanft strich ihm Agrippina eine verirrte Haarsträhne aus der Stirn und gerade als sie zu einer Antwort ansetzen wollte, dröhnte erneut Tiberius' gereizte Stimme durch den Raum.
„Ich habe den weiten Weg von Capri nach Rom zurückgelegt, um mich mit dir zu versöhnen, Agrippina!", donnerte Tiberius. „Und kaum betrittst du den Raum, stiftest du mit deinem Wesen Unfrieden! Lass endlich dieses kindische Benehmen und iss von den Speisen, wie alle anderen Anwesenden!"
Schlagartig verstummen alle Gespräche im Raum. Langsam zog Agrippina ihre Hand vom Gesicht ihres jüngsten Sohnes zurück und bemerkte dabei, wie stark diese zitterte. Doch sie war nicht gelähmt vor Angst wie an manch anderen Abendmählern. Viel zu lange hatte sie ihre wahren Gefühle für diesen abscheulichen Menschen verbergen müssen. Ihr ganzer Körper zitterte vor Wut. Langsam wandte sie sich dem Mörder ihres Mannes zu. Wenn er ihren Untergang schon beschlossen hatte, dann konnte sie wenigstens mit Stil abtreten.
„Es tut mir leid, wenn ich deine Gefühle verletzt habe, oh großer Tiberius", schnurrte sie. „Es rührt mich, dass du allein für unsere Versöhnung eine so weite Reise auf dich genommen hast. Möchtest du dich für den Anschlag auf meinen Mann oder den auf mich entschuldigen?"
Tiberius' Gesicht wechselte seine Farbe von scharlachrot zu kalkweiß und schließlich zu Purpur. Eine ganze Weile donnerte er und ließ sich über ihre Unverschämtheit und viele weitere Dinge aus, die er schon immer an ihr gehasst, Germanicus dafür geliebt hatte. Die ganze Zeit lauschte Agrippina seiner Tirade mit einem höflich-interessierten Lächeln, welches ihn nur noch mehr in Rage versetzte. Sie war Vipsania Agrippina, die Tochter des großen Marcus Vipsanius Agrippa und seiner Frau Julia, der Tochter des großen Augustus. Wäre sie ein Mann, hätte sie selbst einen viel höheren Anspruch auf das Amt, welchem sich ihr Stiefvater Tiberius seit Augustus' Tod immer wieder als unwürdig erwiesen hatte. Tiberius hatte ihre Mutter Julia immer gehasst und ihr das Leben unerträglich gemacht, obwohl ihre dämliche Mutter ihn aufrichtig geliebt hatte. Eine Vipsania Agrippina ließ sich von keinem Tiberius Claudius Nero erniedrigen und brechen.
Nach einer Weile schnappte Tiberius schnaufend nach Luft, ergriff hastig seinen Kelch und stürzte dessen Inhalt in einem Zug hinunter. Wie hatte ihre Mutter nur jemals dieses Scheusal lieben können? Warum hatte ihr Großvater Augustus nur darauf bestanden, dass ihre Mutter ihn heiraten musste, obwohl Julia rein rechtlich nicht mehr seinen Wünschen gehorchen musste?
„Wenn ich lügen sollte, beweise mir doch einfach das Gegenteil und iss etwas von meinem Teller oder trinke aus meinem Kelch", schlug Agrippina in versöhnlichem Ton vor und klimperte mit ihren langen, schwarzen Wimpern, worauf Tiberius ihr einen hasserfüllten Blick zuwarf.
„Dir heuchlerischem Weib muss ich nichts beweisen und jetzt verschwinde aus meinem Haus, bevor ich dich hier auf der Stelle mit meinen bloßen Händen erwürge!", schrie er und sprang von seiner Liege auf. Mit klopfendem Herzen stand Agrippina auf und griff nach Gaius, doch der stand schon mit unbewegter Miene an ihrer Seite. Erleichterung durchströmte sie. Ohne die übrigen Mitglieder ihrer Familie eines Blickes zu würdigen, ergriff sie ihren kleinen Gaius an der Schulter, verbarg ihn mit ihrem eigenen Schleier vor den Blicken der Anwesenden und zog ihn weg von dieser verdorbenen und verlogenen Familie, zu der sie für immer gehören würden.
In den Gängen standen einige Prätorianer in ihren schwarzen Uniformen und blickten ihnen nachdenklich nach. Als sie das Atrium erreichten, hielt Gaius sie plötzlich zurück und deutete auf etwas in den Schatten. Ungläubig starrte Agrippina auf die Szene, die sich ihr dort bot. Beinah vollkommen der Dunkelheit verborgen standen Livilla und Sejanus eng umschlungen und hatten die Welt um sich herum vergessen. Dafür war ihr Kuss zu leidenschaftlich. Panik breitete sich in Agrippina aus und schnürte ihr die Kehle zu.
Lautlos zog Gaius sie weiter und wie durch ein Wunder erreichten sie beide lebendig wenige Minuten später ihre eigene Villa auf dem Palatin.
„Verriegelt alle Türe und Fenster! Lasst niemanden herein, ganz gleich wer vor der Tür steht!", befahl Agrippina ihren Sklaven, kaum dass sie ihr eigenes Atrium erreicht hatten. Sofort wurden ihre Befehle in aller Eile ausgeführt.
„Gaius, geh und wecke deine Schwestern!", wandte sie sich an ihren Sohn. „Bring sie sofort zu mir!"
Gaius nickte ernst und eilte davon. In ihrem Kopf rasten die Gedanken. Wie sollte sie ihre Kinder nur aus der Stadt schaffen, bevor Tiberius' Lakaien kamen und sie alle mit sich nahmen? Eilig huschte sie durch das Haus und kontrollierte alle Eingänge. Ein hastiges Klopfen an der Hintertür ließ sie zusammenfahren. Angestrengt lauschte Agrippina, doch keine Stimme bat um Einlass. Stattdessen vernahm sie sich eilig entfernende Schritte. Mit klopfendem Herzen näherte sich der Tür und lauschte, doch da war nur Stille. Vorsichtig entriegelte sie die Tür und öffnete sie einen Spalt. Auf der Schwelle lag ein Brief. Hastig griff sie nach der Rolle, dann schlug sie die Tür zu und verrammelte sie. Als nächstes rannte sie in Germanicus' Arbeitszimmer und stellte erleichtert fest, dass die Öllampe brannte.
Behutsam brach sie das Siegel ihrer Schwiegermutter Antonia und begann den hastig geschriebenen Brief zu lesen.
Livia und ich versuchen Tiberius zu beruhigen. Er will deinen Tod. Das wollte er schon seit du Germanicus' Ermordung öffentlich gemacht hast. Du warst und wirst immer eine Gefahr für ihn sein. Ebenso deine Kinder. Tiberius wollte dir sofort Prätorianer hinterherschicken, die dich auf der Stelle hinrichten sollten, aber Nero hat ihn aufgehalten. Er hat es gerade noch rechtzeitig zu seiner Villa geschafft, bevor die Prätorianer ihn einholen konnten. Wir versuchen auch ihn vor Tiberius zu retten. Lass deine jüngsten Kinder niemals aus den Augen. Verlasse nicht das Haus. Lass niemanden ein. Vernichte dies.
Drei Mal las Agrippina aufmerksam Antonias Mitteilung und prägte sich jedes Wort ein. Als Gaius mit Drusilla, Julia und der kleinen Agrippina im Raum auftauchte, verbrannte der Brief bereits in einer Schale.
Mit einem traurigen Lächeln breitete Agrippina ihre Arme aus und ihre Kinder klammerten sich an sie. Ihre süßen, kleinen Mädchen schluchzten herzzerreißend, obwohl sie die Gefahr, in der sie alle schwebten, noch nicht erkannt hatten. Gaius erwiderte ernst ihren Blick und plötzlich wusste Agrippina, dass Gaius überleben würde. Vermutlich würde er sich den größten Schrecken und den tiefsten Abgründen stellen müssen, aber er würde Tiberius überleben.
Langsam zog Agrippina ihren Ehering vom Mittelfinger ihrer linken Hand und steckte ihn an den kleinen Finger ihres Sohnes. Der blaue Stein funkelte im matten Licht der Öllampe. Fragend blickte er sie aus seinen himmelblauen Augen an.
„Dieser Ring gehörte einst meiner Mutter, zuvor gehörte er der Großmutter meines Vaters", erklärte sie feierlich und packte ihn bei den Schultern. „Kurz bevor Augustus sie verbannte, gab meine Mutter diesen Ring deiner Großmutter Antonia. Sie muss schon damals gewusst haben, dass dein Vater und ich füreinander bestimmt waren und am Tag meiner Hochzeit weinte ich vor Freude, als dein Vater mir diesen Ring ansteckte. Nun sollst du ihn bekommen und ich möchte, dass du ihn eines Tages an die Frau übergibst, die du aus ganzem Herzen liebst. Dein Vater hat dir im Augenblick seines Todes das Versprechen abgenommen, dass du überlebst. Mir musst du hier und heute schwören, dass du niemals vergisst, wer du bist. Du bist der direkte Nachfahre des großen Augustus, des Marcus Agrippa und des Marcus Antonius. Du bist der Sohn des großen Germanicus, aber vor allen Dingen bist du mein Sohn, Gaius. In dir verbinden sich die drei mächtigsten Blutlinien, die Rom je gesehen hat. Vergiss niemals, wer du bist"
Ernst zog Gaius sie an sich und drückte ihr einen federleichten Kuss auf die Stirn.
„Ich verspreche es dir, Mutter", antwortete er ernst und fügte hinzu, um sie aufzumuntern: „Niemand könnte dich je vergessen"
Doch diese Worte stimmten sie traurig. Vielleicht würde ihr Name niemals in Vergessenheit geraten, aber man würde ihn durch den Dreck ziehen und die Meinung der Öffentlichkeit so verdrehen, dass niemand sich an ihr eigentliches Ich erinnern würde. Denn sie war nun mal nicht mehr als eine tragische Figur in einem erbarmungslosen Spiel, die fallen musste. Ihre Zeit war abgelaufen. Denn auch wenn Livia und Antonia Tiberius heute beruhigen konnten, morgen würde er ihren Untergang besiegeln. Manche Figuren mussten geopfert werden, damit letztendlich der Sieg errungen werden kann. Eines Tages würde ihr kleiner Gaius an der Spitze dieser verdorbenen Familie stehen und somit die höchste Macht im Staat erringen. Dies war Agrippina Rache genug für die Verbrechen gegen ihre Familie und sie selbst.

AureliaWo Geschichten leben. Entdecke jetzt