Dresden, 13. September 2019
Bleich und kalt strahlten die Neonlampen auf die Köpfe der Klasse 8a herab und tauchten den Klassenraum in ihr unnatürliches Licht. Erst am Nachmittag sollte laut Wetterbericht die dichte Wolkendecke aufbrechen und für wenige Stunden die Sonne freigeben. Darauf freute sich die Klasse bereits, denn heute war Freitag und die Schüler sehnten sich ihr Wochenende herbei. Die Sommerferien waren bereits ein Monat her und die Herbstferien ließen noch einen weiteren Monat auf sich warten.
Mittlerweile hatte die Schule wieder ihren normalen Betrieb aufgenommen. Doch während in den meisten Klassenräumen angeregt diskutiert wurde, herrschte im Lateinzimmer beinahe absolute Stille. Denn abgesehen vom Rascheln einiger Blätter, dem vertrauten Kratzen der Füllerspitzen und einigen schweren Atemzügen war kein laut zu hören. Manche lächelten in sich hinein, andere beugten sich tief über ihre Aufgabenblätter. Ein Schüler in der ersten Reihe starrte verständnislos auf sein Blatt und versuchte sich krampfhaft zu erinnern, was er am Abend zuvor gelernt hatte. Immer wieder blickten einige Schüler nervös zur Uhr und versuchten die verbliebene Zeit abzuwägen.
Doch keiner der Schüler war ansatzweise so nervös wie die Praktikantin, die am Lehrerpult saß und die Klasse beaufsichtigte, während sie die Arbeit schrieben, welche die Praktikantin am Wochenende ausgearbeitet und nach den Vorstellungen ihrer Mentorin, der eigentlichen Lateinlehrerin, überarbeitet hatte. Ganz hinten in der Ecke saß die Mentorin und beobachtete interessiert, wie sich die jahrelang antrainierte Theorie in der Praxis entfaltete.
Nur mit Mühe konnte die Praktikantin verhindern, dass ihre Fingerspitzen nervös auf der Tischplatte vor ihr herumtrommelten. Wild wie ein verängstigtes Pferd galoppierte ihr Herz in ihrer Brust, das Blut rauschte in ihren Ohren und Aurelia war sich sicher, dass die Schüler in der ersten Reihe nichts anderes als ihren rasenden Herzschlag hören konnten. Unter keinen Umständen wollte sie, dass sich ihre Unruhe auf die Klasse übertrug und so zwang sie sich zu einem zuversichtlichen Lächeln, indem sie sich an ein lustiges Video erinnerte, auf welches sie irgendwann Mitten in der Vorbereitung einer Stunde auf YouTube gestoßen war.Prüfend huschte Aurelias Blick zur Uhr und stellte überrascht fest, dass die letzten fünf Minuten angebrochen war. Um die Klasse nicht zu stören, gab sie ihre Erkenntnis mit ruhiger Stimme weiter. Sofort sprang eine Schülerin auf und eilte nach vorn, um ihre Arbeit abzugeben. Nur mit Mühe konnte Aurelia verhindern, dass sie die Augen über Tabeas Ungeduld verdrehte. Das Mädchen hatte bereits vor zehn Minuten gefragt, ob sie ihre Lösungen schon einreichen konnte und mit einem Seitenblick auf ihre Mentorin hatte Aurelia sie vertröstet. Kaum legte Tabea ihre Blättersammlung vor Aurelia ab, standen drei weitere Schüler in vollkommener Harmonie auf und kamen nach vorn, um auch ihre Arbeiten abzugeben. Lächelnd nahm Aurelia die Arbeiten entgegen und mit einem Schlag wusste sie, wie sie sich bei der Klasse für ihre gute Mitarbeit und ihr freundliches Verhalten bedanken konnte.
Ganz beiläufig wackelte Aurelia an der Maus des Computers und öffnete den Internetbrowser. Ohne die Klasse aus den Augen zu lassen, rief sie erst eine ganz bestimmte Webseite auf und tippte dann so leise wie möglich ihre Anfrage in die Suchleiste. Es waren nur vier Worte: Ave Me Giulio Cesare. Das leise Klacken der Tasten sorgte dafür, dass in der ersten Reihe die Köpfe nach oben gerissen wurden und die Praktikantin aus neugierigen Augen gemustert wurde. Lächelnd zog Aurelia ihre Hand zurück und registrierte aus dem Augenwinkel, dass ihre Suche erfolgreich gewesen war. Nun musste sie nur geduldig warten, bis die Zeit für alle Schüler abgelaufen war.Sieben Minuten später verstaute Aurelia die eingesammelten Kurzkontrollen in ihrer Mappe und steckte diese in ihre Arbeitstasche. Während die Klasse sich leise über ihre Lösungsansätze austauschte, strich sie sich unbewusst eine wirre, blonde Haarsträhne aus den dunkelblauen Augen und klemmte sie sich hinters Ohr. Doch bereits als sie im nächsten Augenblick ihre Tasche schloss, die Fernbedienung in die Hand nahm und aktivierte den Beamer.
Schlagartig verstummten die Gespräche und allein ihr gehörte die gesamte Aufmerksamkeit aller. Verwirrt runzelte ihre Mentorin die Stirn und warf einen eingehenden Blick auf ihre Verlaufsplanung der Stunde. Doch sie blieb stumm, hob den Blick und musterte mit wachsendem Interesse die neue Unterrichtsphase.
Kurz versicherte sich Aurelia, ob der Ton eingeschalten war, dann schenkte sie den Kindern ihr freundlichstes Lächeln und erklärte: „Nun werden wir uns einen kurzen Filmausschnitt ansehen, in dem eine Sprache gesprochen wird, die sich im Laufe der Zeit aus dem Latein entwickelt hat. Ich möchte, dass ihr die Szene jetzt erst einmal auf euch wirken lasst und ihr mir danach kurz begründet, aus welchem Film die Szene stammt und welche Sprache gesprochen wird."
Voller Neugier betrachtete die Klasse das Video und mit einem Schlag war die Leistungskontrolle vergessen. Still grinste Aurelia in sich hinein, während sie die Gesichter der Schüler beobachtete. In der ersten Auswertungsrunde fiel der Titel des Filmes sofort. Danach entbrannte eine kleine Diskussion, ob in der Szene Spanisch oder Italienisch gesprochen worden war. Doch spätestens als Juan die Augen verdrehte und mit wenigen Worten erklärte, weshalb diese Sprache nie im Leben Spanisch sein konnte, einigte sich die Klasse auf Italienisch. Mit einem erfreuten Nicken bestätigte Aurelia die Vermutung der Klasse und spielte die Sequenz ein weiteres Mal ab.
Dieses Mal machten sich die meisten Schüler Notizen auf einem Schmierblatt und schrieben sich die Wörter auf, die sie wiederzuerkennen glaubten. Aurelia war nicht weniger überrascht als ihre Klasse, wie viele italienische Wörter sie intuitiv den entsprechenden Lateinvokabeln zuordnen konnten. Auf ihrem Platz in der letzten Reihe beugte sich ihre Mentorin mit einem kleinen Lächeln über ihren Tisch und fügte ihrer Einschätzung eine kleine Ergänzung hinzu.
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Aurelia
Tarihi KurguIhr ganzes Leben lang hatte sie so viele Dinge über zauberhafte Städte und Orte in Italien gelesen, dass sie diese nun einfach mit eigenen Augen sehen musste. Mehr hatte sich Aurelia von ihrer Reise durch Italien nie erträumen können. Doch als sie a...