Kapitel 90 ~ Isolatus

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Mit einer langsamen Anmut und Eleganz erhob sich der Nebel dampfend aus dem Fluss, kroch aus seinem nassen Bett und schlängelte sich durch das leicht gewölbte Land. Still und sanft hüllte er die Zelte des römischen Lagers ein und verbarg es vor den neugierigen Augen der einheimischen Späher. Noch lag das Winterlager friedlich schlafend im dichter werdenden Nebel da und niemand, der einen solchen Ort noch nie zuvor mit eigenen Augen gesehen hatte, könnte ahnen, dass in wenigen Augenblicken dieser idyllische Frieden durch ein paar kurze, dröhnende Töne aus den Hörnern der verantwortlichen Legionäre zerrissen werden würde und ein jeder Mann sich seinen Aufgaben widmen würden.
Im gesamten Lager gab es nur eine Person neben den vielen bereits lautlos arbeitenden Sklaven, die bereits vor dem ersten Signal auf den Beinen war und bereits ihrer Arbeit nachging. Im Praetorium saß der Anführer des Heeres, Gaius Caesar Augustus Germanicus, bereits an seinem schweren Schreibtisch und las Berichte über den Zustand seines Reiches, die von seiner Frau im Herzen des Weltreiches zusammengestellt worden waren. Mit ihr kommunizierte Gaius über eine gesonderte Militärpost, deren einzige Aufgabe darin bestand den Kontakt zwischen dem mächtigsten Mann und der mächtigsten Frau des Reiches aufrecht zu erhalten. Doch auch wenn ihnen andere, schnellere Wege zur Verfügung standen, benötigte ein Brief immer noch viel zu lange, sodass alles, was Gaius auf seinem Schreibtisch vorfand, mittlerweile um mehrere Monate veraltet war. Den Senat ließen sie in dem Glauben, dass Aurelia jederzeit in seinem Namen und Auftrag sprach. Bis jetzt war diese Strategie gut aufgegangen.
Fröstelnd zog Gaius seinen Umgang enger um sich und rieb die Hände gegen die britannische Kälte, die unaufhaltsam in sein Zelt kroch. Immerhin hatte er genug Decken, Socken und Handschuhe besorgt. Dennoch war es zu Beginn des Winters für viele seiner Soldaten eine Überwindung gewesen in die Beinkleider zu wechseln. Aber letzten Endes hatte die unbarmherzige Kälte jeden in dieses spezielle Kleidungsstück getrieben.
Mit einem erleichterten Lächeln legte Gaius den letzten Bericht beiseite und schnappte sich den privaten Brief, den seine Frau beigelegt hatte. Schon nach wenigen Wochen im Winterlager hatte er lernen müssen, dass er ihre Berichte schneller durcharbeitete, wenn er sich ihre privaten Mitteilungen bis zum Schluss aufhob. Denn jeder ihrer Briefe gab ihm das Gefühl, als wäre sie für einen kurzen, köstlichen Augenblick bei ihm, sodass er ihn nach dem ersten Lesen immer wieder durchging und jedes ihrer Worte auswendig lernte, nur um den Augenblick mit ihr in die Länge ziehen zu können. Aber seit sie ihm vom Verrat seiner Schwester erzählt hatte, empfand er bei jedem neuen Brief eine seltsame Mischung aus Freude und Angst, Neugier und böser Vorahnung. Noch immer behagte ihm die Vorstellung nicht, dass in Rom Dinge vor sich gingen, die sich nicht nur seiner Kontrolle, sondern auch seiner Kenntnis vollkommen entzogen.
Aufgeregt wie ein kleines Kind an seinem Geburtstag brach Gaius das vertraute, schlichte Siegel, wickelte das rote Band mit ungeduldigen Fingern vom Papyrus und rollte schließlich nach einer gefühlten Ewigkeit das Schriftstück auf. Bereits der mittlerweile vertraute Schwung ihrer Hand zauberte ihm ein kleines Lächeln auf sein Gesicht. Vom Papyrus stieg ihm ein fast kaum wahrnehmbarer Hauch von Lavendel und Kokos in die Nase, der ihn augenblicklich an einen anderen, wärmeren Ort versetzte. Unbemerkt flatterte ein kleines Stück Papier aus der Rolle und blieb mit der Rückseite nach oben neben dem Calamus seines Vaters liegen.

Liebster Gaius,

für uns gibt es kaum eine größere Freude, als einen weiteren deiner Briefe zu erhalten, in welchem du uns von deinen neuesten Abenteuern berichtest. Mittlerweile hat es sich Julius zur Angewohnheit gemacht deine Briefe abzufangen und damit in unsere Gemächer zu stürmen, nur um schneller zu sein als unsere Post.
Heute kann ich dich mit einer freudigen Nachricht aus Rom überraschen. Du bist vergangene Nacht zum zweiten Mal Vater geworden. Deiner Tochter, Julia Antonia, und mir geht es gut. Auch wenn ich dem Arzt wohl einen ziemlichen Schrecken eingejagt habe, als er sich weigerte sich die Hände zu waschen (aber glaube mir, er hatte es nicht anders verdient).
Ich weiß, dass du deine Tochter eigentlich zu Ehren deiner Schwester Drusilla nennen wolltest, aber deine Großmutter war mir in den vergangenen Monaten eine sehr große Stütze und ohne sie wären wir beide vermutlich nicht mehr am Leben.
Der Senat erwartet deinen Sieg, das Volk schreit bereits in den Straßen nach deinem Triumph und wir sehnen uns nach deiner siegreichen Rückkehr.

Für immer die Deine

Aurelia

Etwas an ihren Worten machte ihn stutzig. Immer wieder las er sich die Worte durch, aber er wurde einfach das Gefühl nicht los, dass etwas nicht stimmte. Ihr Ton klang seltsam, so fremd und unpersönlich. Erst nach und nach begriff er, was sie ihm wirklich sagen wollte. Er hatte eine Tochter, seine eigene, kleine Aurelia. Seine Gefühle begannen verrückt zu spielen. Zum einen fühlte er nichts als Glück. Er hatte eine Tochter. Sie lebte. Aurelia lebte. Was spielte es dann für eine Rolle, ob sie nach seiner Schwester oder seiner Großmutter benannt worden war? Sie war sein kleines Mädchen und er liebte sie schon jetzt aus ganzem Herzen. Aber er war auch unendlich überrascht und zu seiner eigenen Unzufriedenheit spürte er eine Welle negativer Emotionen in sich aufsteigen. Da waren so viel Wut, Traurigkeit, Bitterkeit, Frustration und Angst in ihm, dass er zum ersten Mal seit Jahren wieder die Dunkelheit in sich spürte, die er schon vor Jahren überwunden geglaubt hatte.
Schwer atmend legte er den Brief behutsam auf seinem Schreibtisch ab, danach vergrub er das Gesicht in seinen Händen und versuchte sich auf das Gute zu konzentrieren, das es in seinem Leben gab. Wie das kleine Mädchen, welches die nächsten Jahre ohne ihren Vater aufwachsen musste und für das er nicht mehr als ein Name ohne Gesicht sein würde.
Wie lange er so verharrte, konnte er nicht sagen. Ab und zu erklangen Stimmen gedämpft an sein Ohr, aber sie drangen nicht zu ihm durch. Sein Verstand war so sehr mit sich selbst beschäftigt, dass er gar nicht registrierte, wie sein Körper weinte.
Plötzlich legte sich eine Hand auf seine Schulter, die Wärme eines anderen Körpers kroch ihm unter die Haut und klärte seine rasenden Gedanken. Schwerfällig hob er den Kopf aus den Händen und begegnete den hellbraunen Augen seines Freundes Vespasian, die ihn besorgt musterten. Erst jetzt schmeckte Gaius das Salz seiner Tränen auf den Lippen. Ungerührt stand er auf, lief zu seiner Schüssel und wusch sich das Gesicht. Die eisige Kälte des Wassers stach auf seine Haut ein und vertrieb den letzten Rest Dunkelheit aus seinen Gedanken. Sie hatte nur getan, was er selbst für dieses Szenario vorgeschlagen hatte.
Als er sich langsam zu seinem Freund umdrehte, stellte er überrascht fest, dass Vespasian eine Notiz in den Händen hielt und diese aufmerksam mit zusammengekniffenen Augen musterte. Noch immer innerlich aufgewühlt, verschränkte Gaius die Arme vor der Brust und lehnte sich lässig gegen die Kommode, auf der die Waschschüssel stand. Immerhin hatte er sich so weit wieder unter Kontrolle, dass er seine innere Zerrissenheit vor anderen verbergen konnte. Bevor er seinen Freund fragen konnte, was dieser so fasziniert betrachtete, meinte Vespasian begeistert: „Also ich würde sagen, die Kleine hat Glück gehabt und kommt ganz nach ihrer Mutter. Aber es kann natürlich auch sein, dass der Maler einfach nur halb blind ist. Ich kann kaum erkennen, welches der Kinder das Neugeborene sein soll und ich hatte Julius immer vor Augen, wenn ich meinen Sohn gesehen habe"
Verwundert zwang sich Gaius zu einem wissenden Grinsen, trat neben seinen Freund, zupfte ihm das Stückchen Papyrus aus der Hand und vertiefte sich in die winzige Zeichnung. Als erstes fiel sein Blick auf Julius, der strahlend vor Stolz ein Bündel in den Armen hielt. Seine hellen Haare schienen auf dem dünnen Papyrus zu leuchten. Neugierig fokussierte sich Gaius auf das Bündel, das sein Sohn so stolz präsentierte und automatisch formte sich auf seinen Lippen ein echtes Lächeln. Julia Antonia. Sein Mädchen. Aber bei Apollo, Vespasian hatte vollkommen recht – die Zeichnung war so winzig, dass man die Züge der Kinder kaum erahnen konnte. Dennoch versuchte Gaius die Striche und Linien zu erkunden und sich einzuprägen.
„Herzlichen Glückwunsch, mein Freund", wisperte Vespasian, schlug ihm aufmunternd auf die Schulter und glitt aus dem Zelt. Mit einem traurigen Lächeln auf den Lippen strich Gaius über die winzige Zeichnung und wünschte sich zum ersten Mal nicht für sich selbst, dass dieser Feldzug bald vorüber sein würde, sondern für dieses kleine, süße, unschuldige Mädchen, das er nun, da er von ihrer Existenz wusste, unbedingt kennenlernen wollte.

AureliaWo Geschichten leben. Entdecke jetzt