Nach einer spöttischen Verbeugung machte er auf dem Absatz kehrt und verließ den Ort der Versammlung, ohne auf seine Entlassung durch die Stammesfürsten zu warten. Erleichtert registrierte er am Rande seines Bewusstseins, dass seine Freunde ihm unbehelligt folgten. Marcus musste rennen, um ihn einzuholen, aber das kümmerte Britannicus nicht. Angetrieben von seinem lodernden Zorn marschierte er zu seinem Zelt. Erst als sich die Plane hinter ihm schloss, hielt er einen Augenblick inne und sein von seinen Emotionen vernebelter Geist klärte sich langsam auf.
Mit zitternden Händen nahm Britannicus sein Schwert ab und legte es vorsichtig auf seine Truhe. Die leisen Geräusche von Bewegungen verrieten ihm, dass seine Freunde bei ihm waren. Ohne Hast lief Britannicus zu seiner Waschschüssel. Was hatte er nur getan?
„Das ist Wahnsinn!", murmelte Marcus trocken und fuhr sich frustriert durch das noch immer ungewohnte lange Haar. Britannicus ignorierte seinen Freund und beugte sich über die Schüssel, um sein Gesicht zu waschen. Mitten in der Bewegung hielt er inne. Durch das Wasser grotesk verzerrt starrte ihm ein vollkommen Fremder entgegen. Das lange Haar schimmerte golden im Licht der Öllampen – oder kam die Farbe nur vom Gold der Wasserschale? Der ungepflegte Bart verlieh dem Mann etwas Ungehobeltes und obwohl Britannicus dieses Wort nicht denken wollte, formte es sich automatisch in seinem Geist. Barbar. Er sah aus wie ein Barbar. In den vergangenen Monaten hatte er gesprochen und gelebt wie ein Barbar.
Selbst seine Augen, die ihn ruhig und selbstbewusst aus dem Gesicht des Barbars entgegenblickten, hatten sich in den wenigen Monaten verändert. Wo war nur der junge Mann mit dem unsicheren Ausdruck in den Augen? Was war nur aus ihm geworden? Wohin war er gegangen? Würde Britannicus jemals wieder zu sich selbst zurückfinden oder würde er mit einer Lüge sterben? Was würden seine Eltern nur von ihm halten, wenn sie sehen müssten, was aus ihm geworden war? Diese Vorstellung schmerzte ihn mehr als alles andere. Der junge Mann musste noch immer in ihm sein.
Weil er seinen eigenen Anblick nicht mehr ertragen konnte, wandte Britannicus beschämt den Blick ab. Langsam richtete er sich auf und stützte seine Hände neben der goldenen Wasserschüssel ab. Noch immer ignorierte er das Gemurmel seines besten Freundes und die nervösen Blicke, die ihm sein anderer bester Freund stetig zuwarf.
Ruhig hob Britannicus den Kopf und sein Blick wanderte zu dem Schwert, welches einsam und fordernd auf seiner Truhe lag. Das Schwert hatte seinem Vater gehört und vor ihm dessen Vater, der es von seinem Vater geerbt hatte. Dieses Schwert hatte große Schlachten erlebt. Es hatte Blut vergossen und mitangesehen, wie gute Männer fielen. Aber vor allem war dieses Schwert das Schwert von großen Männern, die es im Dienst für ihr Land geführt hatten. Mit welchem Recht führte er dieses Schwert? Nicht einmal seinen Namen hatte er sich selbst verdient. Wie sollte er diesem Schwert am nächsten Morgen nur Ehre erweisen, wenn er sich selbst als ihm so unwürdig empfand?
Marcus hatte recht. Es war Wahnsinn, dass er auf das Angebot des Germanen eingegangen war. Blanker, purer Wahnsinn. Aber wenn er hier in Germanien seinem Land dienen wollte, dann musste er sich ihnen anpassen und dieses eigensinnige Volk zu verstehen lernen. Anders als die großen Männer vor ihm wollte er nicht nur ihr Land befrieden, er wollte den Respekt dieser Menschen gewinnen. Aber was, wenn er sich selbst durch seinen eigenen Ehrgeiz verlor? Hatte er sich nicht schon längst verloren?
Ein weiterer, prüfender Blick in den Spiegel bestätigte ihm, dass er noch nie weiter von seinem wahren Ich entfernt gewesen war als in diesem Moment.
„Das ist absolut unrömisch!", warf Marcus ihm leise vor und Britannicus konnte nicht anders, als seinem Freund insgeheim recht zu geben. Aber anstatt zu seinen finsteren Gedanken zu stehen, fixierte er Marcus vollkommen gelassen.
„Du hättest meiner Mutter besser zuhören sollen, mein Freund", erwiderte er geduldig. „Vor dreihundert Jahren war es üblich, dass wir Kriege auf diese Weise abwehren oder beenden. Nur weil wir heute normalerweise anders vorgehen, ist diese Methode nicht weniger römisch. Sie ist anders, ja. Aber sie ist ein Teil unserer Geschichte und somit ein Teil unserer Identität"
Marcus schnaubte trocken und Titus schüttelte ungläubig den Kopf. Nur zu gut verstand Britannicus die Zweifel seiner Freunde. Er spielte ein riskantes Spiel. Ein Spiel, welches vermutlich seinen Tod bedeutete.
Doch Britannicus hatte seine Entscheidung gefällt. Sein Ahne war auch nicht von seinen Entscheidungen abgewichen, auch wenn diese sein Volk gespalten und in einen blutigen Bürgerkrieg geführt hatte.
Mit einem Ruck richtete sich Britannicus zu seiner vollen Größe auf und lief zu seiner Truhe. Behutsam nahm er das Schwert seiner Familie in die Hände und strich sanft über die Hülle. Jetzt war noch nicht die Zeit es zu zücken. Vorsichtig bettete er seinen kostbarsten Besitz auf seinem Bett, eilte zu seiner Truhe zurück und klappte den Deckel auf. Beleuchtet vom warmen Licht der Öllampen schimmerte ihm seine Uniform entgegen.
Neben dem Eingang seines Zeltes lag die einfache Kampfkleidung der Suevi. Obwohl sie ein Geschenk von Tyra war, würde er sie niemals tragen können. Die Lügen würden morgen enden.
Fast schon zärtlich hob Britannicus seine Uniform aus ihrer Truhe und legte sie neben sein Schwert. Wenn die Schicksalsgöttinnen wollten, dass er die nächste Nacht nicht erlebte, dann wollte er als er selbst sterben. Eine tiefe, absolute Ruhe durchflutete seinen Körper und klärte seinen Geist endgültig.
Leise rief Britannicus nach seinen Sklaven, die im nächsten Augenblick den Raum betraten. Mit funkelnden Augen drehte er sich zu ihnen um und erteilte ihnen den Befehl, nach dem er sich seit so vielen Monaten sehnte: „Schneidet mir die Haare und nehmt mir endlich diesen unsäglichen Bart ab!"
Mit offenen Mündern starrten Marcus und Titus ihn an. Rasch wechselten sie einen ungläubigen Blick, dann nickten sie den fragend dreinblickenden Sklaven in ihrer Nähe stumm zu.
Entspannt lehnte Britannicus sich auf seinem Stuhl zurück und beobachtete im Spiegel seine Verwandlung. Mit jedem Haar, das auf den Boden fiel, wurde er mehr zu dem Mann, der zu sein er bestimmt war. Als die Haut in seinem Gesicht wieder glatt und bartlos war, erschrak er darüber, wie jung er aussah. Da war er wieder, der junge Mann im Spiegel. Irgendwie hatte Britannicus damit gerechnet, dass er älter aussehen würde, wenn der Bart ab wäre. Die Zeit in Germanien konnte doch nicht so spurlos an ihm vorbeigegangen sein, dass ein fehlender Bart sie unwiderruflich aus seinem Gesicht tilgen würde. Verwirrt suchte er nach Veränderungen und als er keine fand, erwiderte er den Blick seiner goldenen Augen. Dort fand er sie. Die große Veränderung. Zuhause hatten seine Augen einen unsicheren, beinahe verlorenen Ausdruck gehabt. Aber hier und jetzt entdeckte er in ihnen eine Entschlossenheit und Willensstärke, die er bisher nur bei seinem Vater gesehen hatte. Morgen würde er seiner Familie zur Ehre gereichen. Und wenn er dabei sein Leben geben musste.„Es ist Zeit", erinnerte ihn Marcus' feste Stimme und Britannicus erhob sich. Mit einer fließenden Bewegung setzte er sich seinen Helm mit dem weißen Federbusch auf dem Kopf. Abgesehen von den breiteren Streifen an seiner Tunika unterschied sich seine Uniform optisch kaum von denen seiner Freunde. Doch im Gegensatz zu Marcus und Titus war Britannicus nicht der Spross einer Familie des Ritterstandes. Trotz seines Alters stand ihm diese gehobenere Position ab dem Tag seiner Geburt zu.
Selbstsicher und gelassen verließ Britannicus sein Zelt. Hinter ihm folgten Marcus und Titus mit den Männern der vier Turmae, die sie auf ihre Reise durch Germanien begleiteten. Wenn die Sache aus dem Ruder lief, standen seinen Freunden nur 128 Mann zur Verfügung. Sofort schob Britannicus diesen düsteren Gedanken beiseite. Wenn er so an die Sache heranging, konnte er nur scheitern und er durfte nicht verlieren. Dafür stand zu viel auf dem Spiel.
Sobald sie ihr kleines Lager verließen und in Sichtweite der ersten Germanen kamen, die bereits am Ort des Kampfes versammelt waren, erhob sich ein Raunen durch die Menge. Unbeirrt setzte Britannicus seinen Weg fort und ignorierte die Blicke, Beleidigungen und Gesten, die seine Uniform in den Menschen hervorrief, die ihn noch gestern als Freund empfangen hatten. Er konnte es ihnen nicht verdenken.
Doch die meisten Germanen schienen verwirrt, so als könnten sie nicht verstehen, weshalb sich Römer in diesem Gebiet aufhielten. Vielleicht wussten sie auch nicht, was seine Uniform bedeutete. Die Meisten von ihnen waren zu jung oder zu weit von den Grenzen aufgewachsen, als dass sie zuvor einen Römer mit eigenen Augen gesehen haben könnten. Doch selbst hier gab es Menschen, die bei seinem Anblick erblichen und vor ihm zurückwichen. Er hatte nach Germanien reisen müssen, um die wahre Macht Roms zu begreifen. Niemand konnte sich ihr entziehen.
Als Britannicus aus dem Kreis der wartenden Germanen trat, gaben seine Freunden ein Zeichen und die kleine römische Einheit blieb stehen. Zu seiner vollen Größe aufgerichtet marschierte Britannicus in die Mitte der freien Fläche und blieb abrupt und mit römischer, militärischer Disziplin reglos stehen.
Stille senkte sich über die freie Fläche. Sacht spielte der Wind mit den Blättern der umstehenden Bäume und brachte sie zum Rascheln. Tief sog Britannicus diesen Klang in sich auf und genoss diesen winzigen Augenblick des Friedens.
Dann trat der Sachse zögerlich aus dem Schutz der Seinen und musterte seinen Gegner mit irritiertem Blick. Britannicus verzog keine Miene.
„Wer bist du?", wollte der Sachse zögerlich wissen und Britannicus zog sich seinen Kavallerieshelm vom Kopf. Fragend studierte der Ältere sein Gesicht und bevor er seine Frage erneut stellen konnte, verkündete Britannicus mit klarer, fester Stimme, damit jeder ihn hören konnte: „Ich bin Gaius Caesar Britannicus. Sohn von Gaius Caesar Augustus Germanicus und Aurelia Vespasia. Ich bin ein wahrer Sohn Roms"Britannicus ~ Filius Romae ist am 17. September 2021 auf Wattpad erschienen und ist auf meinem Profil lenasworldofstories kostenlos lesbar.
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Aurelia
Ficción históricaIhr ganzes Leben lang hatte sie so viele Dinge über zauberhafte Städte und Orte in Italien gelesen, dass sie diese nun einfach mit eigenen Augen sehen musste. Mehr hatte sich Aurelia von ihrer Reise durch Italien nie erträumen können. Doch als sie a...