Kapitel 34 ~ Die Kunst der Täuschung

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Aurelia schrie so laut, dass man sie in jedem anderen, weniger gut isolierten Haus sicherlich bis auf die Straße gehört hätte. In jeder Sprache, die ihr einfiel, stieß sie wüste Verwünschungen aus. Grob stieß Magnus sie in die kleine Zelle und sie verstummte. Trotzig funkelte sie ihn an, doch er lachte ihr nur ins Gesicht und verhöhnte sie, während er die Gittertür ihrer Zelle verschloss. Seine hallenden Schritte wurden von seinem Gelächter begleitet. Sobald sich die Kerkertür hinter ihm schloss, verschwanden die Geräusche der Villa und Aurelia sackte kraftlos in sich zusammen. Sie war wirklich hier. Müde lehnte sie den Kopf gegen die kühlen Gitterstäbe.
Mit der Zeit gewöhnten sich ihre Augen an die Dunkelheit und die Schemen bekamen immer mehr Konturen. In der benachbarten Zelle kauerte eine zierliche Frau und musterte sie neugierig. Drei Zellen weiter lag eine zusammengekrümmte Gestalt reglos auf dem Boden. Eine alles übertönende Stille herrschte im Kerker. Zeit verlor an Bedeutung. Irgendwann rutschte Aurelia vom Gitter weg und rollte sich auf dem harten Steinboden zusammen. Es gab nichts zum Polstern. Wie überaus fürsorglich.
„Sie haben dich in die Livilla-Zelle gesteckt", erklang plötzlich die krächzende Stimme der Gestalt. Träge drehte Aurelia den Kopf in ihre Richtung. „Bei meiner Ankunft in Rom haben sie mir diese Geschichte tuschelnd zugeflüstert. Die Hausherrin hat ihre verräterische Tochter eingesperrt und verhungern lassen. Doch weil die Mutter in ihrer Rolle versagt hatte, legte sie sich selbst die Strafe auf jede einzelne Sekunde des Sterbens ihres eigenen Kindes mitanzusehen. Nachts schleicht die ausgemergelte Tochter noch immer durch diese Zelle und schwört auf Rache"
Die Geschichte von Antonias Tochter hatte Vespasian ihr vor einer Ewigkeit auf seinem Landgut erzählt. Mit ihrem Geliebten Sejanus, dem Prätorianerpräfekten vor Macro, hatte Livilla versucht Tiberius zu beseitigen und ihrem Geliebten den Thron zu beschaffen. Der Plan war vereitelt worden und Antonia brachte es nicht übers Herz ihre Tochter der Justiz zu übergeben.
Mit zittriger Stimme fragte Aurelia die andere Frau, warum sie ihr das erzähle. Doch die lachte nur hysterisch bis Aurelia plötzlich bemerkte, dass die Frau auf der anderen Seite angefangen hatte zu weinen. Behutsam näherte sie sich den Gitterstäben und umschloss das Metall mit den Händen. Immer wieder hatte sich Aurelia diese andere Frau vorzustellen versucht. Doch mit diesem bemitleidenswerten Mädchen hatte sie nicht gerechnet. Irgendwann wischte dieses die Tränen fort und fragte mit ihrer rauen Stimme, woher Aurelia kommen würde. Wieder wurde sie neugierig von ihrer Zellennachbarin gemustert.
„Germanien", erwiderte Aurelia leise und die Augen des Mädchens wurden groß. „Wieso möchtest du das wissen?"
„Haben sie dich genauso verschleppt und in ihre Intrigen hineingezogen wie mich?", wollte sie mit kindlicher Stimme wissen und Aurelia nickte.
„Dann bist du genau so verloren wie ich", meinte das Mädchen bitter und rollte sich auf dem harten Boden zusammen. Im Flüsterton fragte sie die andere Gefangene, warum sie hier war. Als Antwort erhielt sie nur ein Schnauben.
„Von mir brauchen sie kein Geständnis mehr", sprach sie ohne jegliches Gefühl in der Stimme. „Ich habe das berühmte Schwert des Vaters der Hausherrin für meinen Geliebten gestohlen"
Aurelia deutete auf die reglose Gestalt hinter dem Mädchen. Dann fuhr sie fort: „Am Ausgang haben sie ihn mit der Waffe entdeckt und solange gefoltert, bis er meinen Namen nannte. Nach nur einem Blick auf seinen geschundenen und gequälten Körper habe ich ihnen die Wahrheit erzählt. Dafür werden wir morgen als Höhepunkt der Spiele den Löwen zum Fraß vorgeworfen. Niemand wird kommen um uns zu befreien. Bitte teile deine Geschichte mit mir. Es wird die letzte sein, die ich jemals hören werde und was du auch getan hast, wer würde mir glauben? In mir sehen sie nur eine verräterische Diebin, die ihre eigene Haut retten will. Ich habe mit meinem sicheren Tod abgeschlossen. Hab bitte keine Angst vor mir, denn ich bin keine Gefahr für dich"
Lange hielt Aurelia die Eisenstäbe umklammert, die langsam warm wurden, doch das Mädchen blieb reglos auf dem Boden liegen. Schwer seufzend löste Aurelia ihre verkrampften Finger und wandte sich ab. Wie hatte sie nur so naiv sein können zu glauben, dass ausgerechnet sie das Mädchen zum Reden bringen würde.
Fieberhaft dachte sie nach, was sie als nächstes sagen oder tun sollte, doch sie drehte sich im Kreis. Das Rascheln von Stoff schreckte sie aus ihren Gedanken auf. Das Mädchen umfasste die Eisenstäbe und blickte sie aus dunklen Augen hilfesuchend an. Stockend begann sie von ihrer frühen Kindheit im Partherreich zu erzählen. Damals nannte man sie noch Mina. Aber eines Tages war sie zu leichtsinnig und entfernte sich allein zu weit vom Dorf ihrer Eltern, um die Lieblingsfrüchte ihrer Mutter zu pflücken. Auf dem Rückweg lauerten ihr finstere Männer auf, überwältigten sie und verschleppten sie nach Rom. Dort wurde sie vom Auftraggeber der Männer an einen reichen Bordellbesitzer verkauft. Er war reich, fett und rühmte sich damit all seine Huren regelmäßig selbst zu besteigen, um sich von ihrer Qualität und ihrem Wert zu überzeugen. Verängstigt blieb sie in ihrer kleinen Kammer und bangte mit jedem Herunterbewegen der Türklinke, dass er sie aufsuchen würde.
Nach einer Woche kam eine der erfahrensten Huren, zerrte sie aus der Kammer, badete sie, steckte sie in frische Kleider und frisierte ihre Haare. Mina widersetzte sich nicht einmal, als die Frau sie ungeduldig in das Arbeitszimmer ihres Besitzers führte. Dort warteten bereits dreißig Männer. Jeder von ihnen musterte sie mit hungrigen Augen, dann brach eine hitzig Diskussion aus. Damals sprach sie nur wenige Brocken Latein, weshalb sie das hektische Treiben und Schreien der Männer nur voller Angst beobachten konnte.
Plötzlich erschien ein junger Mann mit einem schweren Geldbeutel, warf ihn lässig auf den Tisch und nickte ihrem Besitzer zu, der bereits eifrig die Goldmünzen zählte. Nach einem kurzen Wortwechsel schüttelte ihr Besitzer jedoch den Kopf und zeigte mit seinem dicken Finger auf einen besonders grobschlächtigen Mann. Hämisch grinsend, packte dieser ihre Hand und zog sie mit sich in einen besonders prächtig ausstaffierten Raum. Die Tür lies er offen und einige der Männer blieben mit großem Interesse stehen. Lässig schenkte er sich Wein ein und unsicher blieb sie am Rand des Bettes stehen. Er sagte etwas zu ihr, was sie nicht verstand. Lächelnd stellte er seinen Kelch ab und kam langsam auf sie zu wie ein Tiger auf der Jagd. Hungrig und grob stieß er sie auf das riesige Bett, zerriss ihre Kleider und Mina schrie vor Schmerz. Sein Keuchen drang an ihr Ohr und angeekelt schloss sie die Augen. Wütend schlug er sie und entsetzt starrte sie ihn an. In schlechtem Griechisch befahl er ihr sich alles mit anzusehen. Ihr eigenes schmerzverzerrtes Gesicht spiegelte sich in seinen grausamen Augen. Doch je mehr Schmerz sie empfand, desto mehr lachten die Männer. Kaum war er fertig mit ihr, erschien auch schon der nächste und so ging es eine ganze Weile weiter bis sie gelähmt vor Schmerz und Angst gedemütigt auf dem Bett lag und sie endlich genug von ihr hatten. Kraftlos verlor sie das Bewusstsein.
Mina wachte allein in ihrer kleinen Kammer auf. Doch ihre Schmerzen hielten sie immer noch gefangen und weinend gab sie sich ihrem Selbstmitleid hin. Irgendwann ebbte der Schmerz ab und auf ihrer Bettkante saß die ältere Hure.
„Hör auf dich in deinem Selbstmitleid zu baden und fang an deinen Nutzen aus der Situation zu ziehen!", fuhr sie Mina barsch an. Es tat gut ihre eigene Sprache an diesem fremden und furchtbaren Ort zu hören. So bekam sie ein Stückchen Heimat zurück. Das Mädchen nickte und ihre Ausbildung begann. Jedes Wort saugte sie in sich auf, lernte Latein, Tanz, Gesang und den Willen der Männer zu akzeptieren. Zwei Jahr später war sie Persia, die begehrteste Kurtisane Roms.
Vor ein paar Monaten tauchte der junge Mann vom Abend ihrer Auktion während einer rauschenden Orgie neben ihr auf und als sie die neidischen Blicke der anderen Prostituierten sah, verführte sie ihn ohne nachzudenken. Am nächsten Morgen wurde sie in das Arbeitszimmer ihres Besitzers gerufen und darüber informiert, dass sie ab sofort keine anderen Freier mehr empfangen durfte. Seitdem war der junge Mann ihr exklusiver Kunde, der jeden Abend zu ihr kam. Sein Name war Gemellus und nach einigen Wochen begann er von Liebe zu sprechen. Bald darauf versprach er ihr die Welt, wenn sie einen Gefallen für ihn tun würde. Natürlich willigte sie ohne zu zögern ein. In der nächsten Nacht schlichen sie sich aus dem Bordell und in einem abgeschiedenen Tempel eines ihr unbekannten Gottes. Dort erzählte er ihr von seinem hinterhältigen Verwandten, der ihm seinen rechtmäßigen Platz als Herrscher Roms verweigerte. Sie sollte diesen Verwandten, den Princeps, verführen und im Schlaf mit einem Trank vergiften, dessen Wirkung sich erst zwölf Stunden später entfalten würde. Neben genügend Geld, um ihre Freiheit zu kaufen und ihr ein schönes Leben in einer Villa am Meer zu sichern, versprach er ihr Rache an allen Teilnehmern ihrer Versteigerung üben zu dürfen. Wie hätte sie ablehnen können? Gegen Mitternacht trafen sie sich mit einem Fremden, der sein Gesicht im Schatten einer Falte seines Mantels verborgen hielt. Von ihm erhielt sie das Gift. Die restlichen Stunden bis zum Beginn des Festes verbrachte sie in Gemellus' Gemächern im Palast. Als sie den Princeps sah, wusste sie nur, dass sie ihren Auftrag erfüllen musste, dann würde sie immer etwas gegen den mächtigsten Mann im Staat in der Hand halten. Niemand würde sie dann je wieder demütigen. Nie wieder würde sie schwach sein. Aber sie hatte versagt. Zum ersten Mal nach Abschluss ihre Ausbildung hatte sie einen Mann nicht verführen können. Kaum war der Princeps verschwunden, griff sie hastig nach ihren Sachen und plante unterzutauchen. Doch bevor sie den Palast verlassen konnte, stellte sich eine hübsche, reiche und ziemlich betrunkene Frau in ihren Weg und verwickelte sie in eines dieser ausweglosen und ewigen Gespräche, die nur Betrunkene führen können. Irgendwann tauchten schwer bewaffnete Männer hinter der Betrunkenen auf, packten Persia, betäubten sie und brachten sie in aller Stille in diese Zelle.
„Jetzt sitze ich hier mit dir und bin genauso verdammt wie du", schloss das Mädchen, entfernte sich leise von den Gitterstäben und schlief auf dem kalten Boden ein. Die bis dahin zusammengekrümmte Gestalt setzte sich anmutig und geräuschlos wie eine Katze auf und nickte ihr gut sichtbar zu. Er hatte jedes Wort verstanden. Nachdenklich schloss Aurelia die Augen. Bis jetzt hatte sie nur Beweise gegen diesen Dummkopf Gemellus. Aber wäre er wirklich in der Lage allein den Mord an seinem eigenen Verwandten zu begehen oder hatte Macro ihm doch den Plan eingeflüstert. Wer war der zweite Mann im Schatten? Hatte Aurelia irgendein fehlendes Puzzlestückchen übersehen?

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