Kapitel 2 ~ Die Göttin aus dem Meer

2.2K 115 18
                                    

Wie ein vom Jäger getriebenes Tier stolperte er durch die wunderschönen Gärten seines Onkels. Die Gewissheit, dass ein falsches Wort seinen sofortigen Tod bedeuten würde, machte ihn einfach nur noch fertig. Gewiss hatte er wie kein Zweiter gelernt blitzschnell auf die sich ebenso schnell wandelnden Launen seines Onkels zu reagieren. Aber dennoch raubte das permanente Verstellen ihm die Kräfte und trieb ihn an den Rand der Verzweiflung. So konnte er einfach nicht mehr weitermachen, wenn er sich nicht selbst verlieren wollte.
Ein plötzliches Funkeln holte ihn in die Realität zurück. Da drüben in der Brandung kämpfte sich ein Gestalt ans Ufer. Was er als Nächstes tat, machte keinen Sinn. Dennoch lief er geradewegs auf die Gestalt zu. Mit jedem Schritt konnte er sie besser erkennen. Aus dem Meer erhob sich eine atemberaubend schöne Göttin. Ihr nasses Kleid schmiegte sich an ihre perfekten Rundungen. War dies ein Test seiner pietas? Wut durchflutete ihn plötzlich. Warum musste ausgerechnet jetzt noch ein Test hinzukommen? Litt er nicht schon genug unter der „Erziehung" seines Onkels?
Trotzig schrie er und die Göttin fuhr zu ihm herum. Bei Jupiter, wie perfekt sie doch war! Doch ihre Schönheit machte ihn nur noch wütender. Natürlich musste ihn eine solche Schönheit auf die Probe stellen.
Wenige Schritte von ihr entfernt blieb er stehen und musterte sie. Zitterte sie etwa? War ihr kalt? Doch dann ermahnte er sich, dass die Göttin ihm nur das hilflose Mädchen vorspielte, damit sie ihn besser einwickeln konnte. Denn welche Sterbliche wäre töricht genug hier ohne Einladung aufzutauchen - dazu noch mitten in der Nacht. Aber da war irgendetwas an ihr, das ihn berührte.
„Wer bist du?", fragte er sie sanfter als beabsichtigt. Das Zittern ihres Körpers verstärkte sich, verwirrt riss sie die Augen auf. Dann klappte sie einfach zusammen. Bevor sie im Sand landete, schloss er die kurze Entfernung zwischen ihnen und fing sie auf. Ihr Haar verströme einen Duft von Meer mit einem Hauch Lavendel. Behutsam strich er ihr eine widerspenstige Haarsträhne aus dem Gesicht. Sie glühte ja. Sollte er wirklich?
Schließlich hob er sie hoch und trug sie in seinen Armen durch die Geheimgänge zurück in sein Zimmer. Besonnen legte er sie auf sein Bett. Die Nacht würde er wohl auf der Speiseliege verbringen.
Als Nächstes ging er zur Tür und Erleichterung durchströmte ihn, als er das Gesicht des jungen Prätorianers sah, der vor seinem Zimmer Wache hielt. Sein Wachhund konnte ja nichts von den Geheimgängen wissen. Nicht einmal sein Onkel wusste davon, dafür hatte seine Großmutter gesorgt.
„Clemens?", fragte er scharf. „Wem dienst du?"
Der junge Mann schaute ihn forschend an.
„Ich diene meinem Princeps", antwortete dieser schließlich.
„Gut", grummelte er schon und wollte sich abwenden. Doch Clemens ergriff ihn am Oberarm und murmelte in sein Ohr: „Aber ich glaube daran, dass Ihr der nächste Princeps werdet, Herr. Wie kann ich Euch dienen?"
Einen Moment überlegte er, ob er Clemens vertrauen konnte. Dann kam ihm die bewusstlose Göttin in seinem Zimmer in dem Sinn und ihm wurde bewusst, dass er keine andere Wahl hatte. Es war gleich, ob sie eine Göttin oder eine gewöhnliche Sterbliche war. Helfen musste er ihr.
„Hol mir Sophia", befahl er. Clemens salutierte zackig, dann eilte er davon, während er selbst zurück in sein Zimmer schlüpfte.
Sie bewegte sich nicht. Eine Welle von Angst trieb ihn zu ihr und er ergriff ihre glühende Hand. Wie winzig und zart sie in der Seinen wirkte. Er erstarrte und wartete. Da hörte er endlich ihren leisen Atem und atmete erleichtert aus. Sie lebte noch. Er führte ihre Hand an seine Lippen. Dann beugte er sich über sie und versprach, auch wenn sie ihn nicht hören konnte: „Ich werde dich vor jeder Gefahr beschützen"
Ihre Lider begannen zu flattern, doch sie seufzte nur. Dann war sie wieder ruhig.
Ihre Hand in seiner - so saß er da, bis Clemens ihn von ihr fortzog, damit die alte, gutmütige Sklavin ihre Arbeit beginnen konnte. Sophia entbrannte geschickt die Lampe und untersuchte schweigend den Körper des Mädchens. Im Schein der Öllampe fielen ihm ihre aufgeschürften Handflächen und ein Kratzer am Handgelenk auf, aus dem nur noch wenige Tropfen Blut sickerten. Rotes Blut, kein Goldenes. Augenblicklich wurde ihm schmerzlich bewusst, dass ihr Leben ebenso vergänglich war wie das Seine. Er betete zu jeder Gottheit, die ihm einfiel, um ihr Überleben.
„Sophia!", fragte er leise und die alte Griechin blickte zu ihm auf. „Kannst du ihr helfen"
Die alte Frau betrachtete das Mädchen eingehend. Schließlich versprach sie, dass sie alles in ihrer Macht stehende tun würde. Clemens tauchte plötzlich neben ihr auf, einen mit warmen Wasser gefüllten Eimer in der einen und Tücher in der anderen Hand, die er wortlos an die Sklavin weiterreichte. So schnell wie er aufgetaucht war, verschwand er auch wieder, nur um kurz darauf einen weiteren Eimer voller Wasser der alten Frau zu geben. Kaum war sie endlich fertig dem Mädchen einen Sud einzuflößen und ihre Stirn mit feuchten Tüchern zu bedecken, setzte er sich wieder zu ihr.
Sophia ergriff mitfühlend seine Schulter: „Wenn Ihr mich braucht, Herr, dann schickt Clemens nach mir"
Er nickte nur und wies ihr mit der Hand an zu verschwinden. Als sie an der Tür angekommen war, hielt er sie noch einmal zurück.
„Niemand abgesehen von uns dreien darf wissen, dass sie hier ist", erklärte er und die beiden anderen nickten zustimmend.
„Glaubt mir, Herr", raunte die alte Sklavin. „Wenn Euer Onkel erfährt, das wir Euch geholfen haben, werden wir nicht mehr lange zu leben haben"
Der junge Mann nickte nur und wand sich dann wieder dem Mädchen zu, dass im Fiebertraum leise wimmerte. Was war ihr nur zugestoßen, dass es sie ausgerechnet hier her verschlagen hatte?
„Herr?", ertönte die Stimme hinter ihm erneut. Widerwillig wandte er der Sklavin erneut seine Aufmerksamkeit zu. „Wer auch immer sie ist, eine Sklavin oder von niedrigem Stand ist sie nicht"
Verwirrt runzelte er die Stirn und Sophia fügte sogleich hinzu: „Ihre Hände zeigen keinerlei Spuren von Arbeit"
Als Beweis streckte sie ihm ihre eigenen entgegen. Er nickte nur und endlich war er wieder allein. Voller Fragen musterte er die Schöne erneut und betete zu jeder Gottheit, die ihm einfiel, um ihr Überleben. Er musste wissen, wer sie war.
Drei Tage und drei Nächte war sie in ihrer Fieberwelt gefangen und murmelte immer wieder in einer Sprache vor sich hin, die er noch nie gehört hatte. Jede Nacht schlich sich Sophia in sein Zimmer und mit jedem weiteren Tag sah sie besorgter aus. 
So oft er konnte, saß er bei ihr und wachte über sie. Wenn sein Onkel sie in die Finger kriegen würde...

AureliaWo Geschichten leben. Entdecke jetzt