Kapitel 55 ~ Unwiederbringlich

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Seit mittlerweile drei Stunden beobachtete Gaius dieses vor ihm kauernden Häufchen Elend und hatte nicht einmal ansatzweise etwas aus ihm herausbekommen, was ihm von Nutzen sein konnte. Seit Stunden stand er am anderen Ende der Zelle, blickte auf Gemellus herab und wartete darauf, dass dieser endlich aufhören würde seine kostbare Zeit zu verschwenden. In seinem Inneren wusste Gaius, dass dieser dumme Junge der Schlüssel sein konnte, aber er war es mittlerweile leid weiter zu warten. Seit nun zehn Tagen kam er zu Gemellus herab und wartete auf ein Zeichen. Doch seit zehn Tagen kauerte sich dieser zusammen, schniefte und jammerte seiner kleinen persischen Hure nach. Gaius war dies alles so leid.
„Du weißt, was du zu tun hast. Du hast es schon einmal getan - bei mir", raunte eine Stimme in seinem Kopf und Gaius erstarrte. Tiberius war tot. Er selbst hatte den Scheiterhaufen nach den alten Sitten angezündet. Gereizt schüttelte Gaius den Kopf. Gemellus brauchte einfach mehr Zeit um über alles nachzudenken. Er musste nur etwas mehr Geduld mit dem Jungen haben, dann würde er auch bekommen, was er wollte.
„Sieh ihn dir an", säuselte die Stimme seiner Großmutter in seinen Gedanken. „Gemellus ist schwach und dumm. Niemals wird er dir zum Nutzen gereichen"
Nachdenklich musterte Gaius seinen Vetter erneut, doch dieses Mal ein kleines bisschen intensiver. Gemellus bemerkte es noch nicht mal. Er war einfach zu sehr in seiner eigenen, dunklen Welt gefangen.
„Tu es!", zischten Tiberius und Antonia aufgebracht. Plötzlich verstand Gaius, worauf Tiberius bei ihm in Capri vergeblich gewartet hatte. Denn genau an diesem Punkt war Gemellus angekommen: Gefangen in seiner Welt, die nur aus Einsamkeit und Schmerz bestand, hatte Gemellus sich selbst aufgegeben. Er war gebrochen und würde weder Gaius noch sonst jemandem irgendeinen Nutzen einbringen. Gelassen zog Gaius dem Prätorianer, der ihm am nächsten stand, das Schwert aus der Scheide und warf es Gemellus vor die Füße. Dieser starrte lange verständnislos darauf hinab. Plötzlich hob er entsetzt den Blick, als er endlich verstand. Gelassen erwiderte Gaius seinen flehenden Blick. Erneut begann Gemellus herzzerreißend zu weinen. Nur mit Mühe schluckte Gaius seine Gefühle hinunter und sein Inneres erstarrte zu Eis. Es musste geschehen.
„Du hast die Wahl, Gemellus", sagte er kalt. „Mir ist es gleich, ob du wie der Verräter, der du bist, öffentlich hingerichtet wirst oder du dich jetzt und hier für den würdevolleren Tod entscheidest. Aber du musst jetzt deine Entscheidung treffen"
Schluchzend öffnete Gemellus seit zehn Tagen zum ersten Mal den Mund und sprach mit vor Angst bebender Stimme: „Ich weiß doch gar nicht, wie das geht!"
Ungeduldig verdrehte Gaius die Augen. Natürlich hatte Gemellus keine Ahnung. Im Gegensatz zu Gaius war er auch immer von Tiberius verhätschelt worden. Leise gab Gaius dem Prätorianer, dessen Schwert immer noch unangerührt vor Gemellus lag, den Befehl den Jungen aufzuklären. Mit festen Schritten trat der Prätorianer zu Gemellus und Gaius meinte sich zu erinnern, dass er Rufus hieß. Emotionslos unterrichtete er den Gefangenen in der einfachsten, schnellsten und würdevollsten Methode sich zu entleiben, während Gemellus Gaius aus verquollenen Augen anstarrte und stumm um Vergebung bettelte. Doch dafür war es zu spät. Für Gaius war es nun an der Zeit, dass er sich nicht wie ein Mensch, sondern wie ein Herrscher verhielt und Herrscher mussten Bedrohungen ihrer Herrschaft vernichten, bevor sie davon vernichtet werden konnten. Ob Tiberius geahnt hatte, dass es letztendlich darauf hinauslaufen würde? Einer von ihnen hatte von Anfang an sterben müssen, denn keiner von beiden konnte in Sicherheit herrschen, solange der andere noch am Leben war. Im Moment wusste Gaius nur, dass er unbedingt leben wollte. Koste es, was es wolle.
Nach einer Weile verstummte Rufus und trat diskret zurück auf seinen Posten. Zitternd starrte Gemellus auf das Schwert zu seinen Füßen. Dann suchten seine Augen ein letztes Mal flehentlich die von Gaius', doch Gaius blieb hart. Er hatte seine Entscheidung getroffen. Gemellus schluckte nervös, bückte sich und ergriff mit bebenden Händen das Schwert. Zittrig richtete er sich auf und versuchte vergebens seine Gefühle unter Kontrolle zu bekommen. Tränen tropften auf die Klinge wie Blut. Langsam drehte Gemellus das in seiner Hand stark wackelnde Heft so, dass die Spitze auf seine Brust zielte, als er ruckartig den Kopf hob, den Blick fest auf Gaius gerichtet.
Plötzlich halten Schritte durch die Gemäuer und Gemellus ließ verwirrt von dem neuen Geräusch die Klinge sinken. Irritiert blickte er den Näherkommenden, wahrscheinlich der Wachablösung, entgegen. Bevor Gaius seinen Gefangenen wütend zurechtweisen konnte ihn nicht länger hinzuhalten, schoss ein Schemen an ihm vorbei und schlug Gemellus das Schwert aus dem unsicheren Griff, während sich im gleichen Moment eine sanfte, warme Hand auf Gaius' Arm legte. Verwundert wanderte sein Blick von der kleinen Hand den schlanken Arm hinauf zu dem wunderschönen Gesicht bis er in den meerblauen Augen seiner atemberaubend schönen Frau versank. Die tiefe Traurigkeit und die große Angst um ihn klärten augenblicklich seine Gedanken. Gaius schluckte schwer, doch er war unfähig sich zu bewegen.
„Tu das nicht", bat sie ihn leise und legte ihm zärtlich die andere Hand auf die Wange. Ihre sanfte Berührung vertrieb die Kälte aus seinem Körper und ihre Worte hallten tief in seinem Inneren wider. „Gib ihm noch etwas Zeit über dein Angebot nachzudenken. Wenn er sich danach immer noch weigern sollte, dann lass andere diese Entscheidung treffen, die dich sonst zerstört"
Betroffen hielt er ihrem Blick stand. Verstand sie nicht, dass er das hier auch für sie tat? Gemellus war eine Bedrohung für sie beide und würde dies sein Leben lang bleiben. Wer sollte ihm diese Entscheidung abnehmen können? Er war der Princeps, der erste Mann im Staat. Sein Wort war Gesetz. Obwohl in ihren Augen Tränen schimmerten, bewegte die feste Entschlossenheit in ihnen Gaius zutiefst und er erkannte, dass sie recht hatte. Wenn er diese Entscheidung selbst traf, zerstöre er unwiderruflich einen Teil von sich selbst.
„Das hier", fuhr sie fort und deutete mit dem Kopf auf Gemellus. „Das bist nicht du. Werde nicht zu jemandem, der du nie sein wolltest, nur weil du glaubst, es gibt keine andere Lösung. Aber es gibt immer einen anderen Weg, mein Liebster. Du musst diese Entscheidung nicht treffen"
Schluchzend zog er Aurelia in seine Arme und vergrub das Gesicht schutzsuchend in ihren Haaren. Erleichtert entspannte sich ihr Körper. Sie hielt ihn einfach nur schweigend fest und an ihrer Schulter gestand er sich einen Moment der Schwäche zu, als wären sie allein in ihren Gemächern und nicht in Gemellus' Zelle. Während der Sturm seiner Emotionen in ihm tobte, verankerte sie ihn in der Realität. Wie der Südwind fegte sie die Dunkelheit fort, die ihn zu übermannen versucht hatte. Erneut hatte sie ihn vor sich selbst gerettet. Ohne sie war er verloren.
Erschöpft löste er langsam seinen Klammergriff und legte ihr behutsam seine Hand auf die Wange, als wäre sie aus kostbarem Glas und könnte unter seinen Fingern in Tausend kleine Teilchen zerspringen, wenn er nicht aufpasste. In ihren Augen fand er die Bestätigung und Kraft, die er für die kommenden Wochen so dringend benötigte. Selbstsicher wandte er sich seinem Vetter zu.
„Es tut mir leid, Gemellus", hörte er sich aus der Ferne sagen. „Ich hätte meine Ungeduld nicht an dir auslassen dürfen. Nimm dir die Zeit, die du braucht und denke über mein Angebot nach. Ich werde weder jetzt noch in Zukunft über dich richten. Aber ich kann dir helfen, wenn du endlich deine Aussage machst"
Irgendetwas hatte sich an Gemellus verändert, seitdem Aurelia in die Zelle gestürmt war. Zum ersten Mal seit Monaten wirkte er vollkommen klar und ruhig. Doch Gaius war zu ausgelaugt, um sich darüber Gedanken zu machen. Vorsichtig schob er seine Hand in Aurelias und wollte mit ihr den Raum verlassen, als sie ihn sanft zurückhielt. Mit ernster Miene richtete sie ihre Aufmerksamkeit auf Gemellus.

AureliaWo Geschichten leben. Entdecke jetzt