Kapitel 64 ~ Iudicia iusta

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29. Januar 38 n. Chr.

Blaue Funken flitzten getrieben vom Licht der untergehenden Sonne durch den Raum und trafen auf Wände, Möbel, Papyrus, Kleidung. Einer dieser Funken stach Gaius ins Auge und ließ ihn aufblicken. Geküsst vom rötlich-goldenen Sonnenlicht stand Aurelia wie eine Statue vor dem großen Fenster seines Arbeitszimmers und starrte gedankenverloren auf die langsam erlahmende Stadt. Ihre Haare fielen ihr in weichen Wellen über die Schulter, ihr beinahe durchsichtiges Kleid schmiegte sich eng an ihren Körper und betonte die leichte Wölbung ihres Bauches. Die Finger ihrer rechten Hand spielten nervös mit ihrem Ehering, eine Angewohnheit, die Gaius immer bei seiner Frau beobachtete, wenn sie nachdachte. Die gleiche unbewusste Geste, die er auch bei seiner Mutter unzählige Male gesehen hatte. Seine Mutter hätte Aurelia sicher wie ihre eigene Tochter geliebt.
Im nächsten Moment legte Gaius den Calamus seines Vaters beiseite, erhob sich, überbrückte die wenigen Schritte, die sie trennte und schloss Aurelia in seine Arme. Doch sie war so tief in ihre Gedanken versunken, dass sie ihn gar nicht wahrzunehmen schien.
„Woran denkst du, meine Schöne?", raunte er ihr ins Ohr und sie zuckte erschrocken zusammen. Danach legte sie automatisch ihre Armen auf die seinen, welche sie an der Taille sanft umschlungen hielten und begann gedankenverloren Muster auf seine Unterarme zu zeichnen.
„An morgen", antwortete sie schlicht und er seufzte tief, darauf wartend, dass sie fortfuhr. Doch sie blieb stumm. Nach einer Weile bohrte er behutsam nach und sie murmelte leise: „Ich mache mir Sorgen um Gemellus. Was ist, wenn sie ihn zum Tode verurteilen?"
Gaius zog sie enger an sich und küsste sanft ihr Haar.
„Sie werden ihn nicht zum Tode verurteilen", meinte er leise und hoffte, ihr würden die Zweifel in seiner Stimme entgehen. „Er ist schuldig, aber er ist immer noch ein Teil unserer Familie. Außerdem habe ich ihm öffentlich verziehen. Sehr viel wahrscheinlicher ist es, dass sie ihn in die Verbannung schicken und falls nicht, wird er mich sicher um Gnade bitten und ich werde seine Strafe in Verbannung ändern"
Aurelia nickte und ihr Körper entspannte sich ein wenig. Schweigend blickten sie über die Stadt und beobachteten den Sonnenuntergang. War Verbannung überhaupt gnädiger als der schnelle Tod durch das Schwert?
„Werden wir ihm helfen, wenn es so weit ist?", fragte sie müde, als hätte sie seine Gedanken gehört. Vielleicht hatte er auch laut gedacht. Vorsichtshalber fragte er noch einmal nach, wobei genau sie Gemellus helfen wollte. Aurelia schnaubte, als wäre das so offensichtlich. Aber vielleicht lag es für sie auch wirklich auf der Hand. Als er sie vor ein paar Tagen gefragt hatte, welches Strafmaß in ihrer Zeit über Macro verhangen worden wäre, hatte sie nur gelacht und gemeint, dass man ihn vermutlich für fünfundzwanzig Jahre ins Gefängnis gesteckt hätte. Zu Beginn hatte Gaius ihre Antwort für einen Scherz gehalten und mit ihr gelacht. Da wurde sie schlagartig ernst und erklärte ihm, dass sowohl Folter als auch Todesstrafe in ihrer Zeit abgeschafft waren – zumindest in ihrem Land und dabei rümpfte sie die Nase, als ob jedes Land, welches an diesen Methoden in ihrer Zeit festhielt, barbarisch und rückständig sei. Vielleicht war es das auch. Vielleicht war es ein Zeichen der Ohnmacht und des Machtmissbrauchs gegenüber den Untertanen eines Staates, wenn dieser Staat das Leben seiner Schützlinge beenden konnte. Aber sie lebten nicht im Jahr 2019 nach Christus – wer auch immer dieser Christus sein sollte. Sie lebten weder in einer Republik noch in einer richtigen Monarchie. Sie lebten in einem Rom, welches politische Stabilität dringender benötigte als alles andere. Solange Gemellus lebte, ging von ihm eine Gefahr aus, die Rom aus dem Gleichgewicht bringen konnte. Wäre Tiberius noch an Gaius' Stelle, wäre Gemellus schon längst zu einem Häufchen Asche verbrannt.
„Der Wortlaut des Gesetzes sieht bei einer Verbannung vor, dass dem Verbannten in einem gewissen Umkreis um Rom der Zugang zu Wasser und Feuer versagt wird, mein Schatz", erklärte Gaius bedrückt. „Jeder, der Gemellus helfen wird, begeht damit eine Straftat"
Wieder schnaubte Aurelia verächtlich. Plötzlich drehte sie sich um die eigene Achse und nahm sein Gesicht in ihre Hände. In ihre Augen trat ein neuer Glanz.
„Dann geben wir ihm eben weder Feuer noch Wasser", murmelte sie eindringlich und ein verschmitztes Lächeln breitet sich auf ihrem Gesicht aus. In diesem Moment wurde sich Gaius erneut bewusst, dass diese wunderschöne Frau in seinen Armen die Antwort auf all seine Fragen und Gebete war. Auch wenn ganz Rom hinter ihren Rücken über sie beide tuschelte und tratschte, sollten sie doch reden. In seinem ganzen Leben hatte ihn noch keine Frau vor ihr auf diese Weise berührt und keine andere würde es jemals können. Es gab nur sie. Sie waren zwei Hälften eines Ganzen – wie die Kugelmenschen bei Platon und Aristophanes. Wie konnte nur irgendjemand glauben, er würde jemals das Interesse an ihr verlieren können?
Automatisch spiegelten seine Züge verschwörerisch ihre Miene. Leicht neigte er seinen Kopf und ihr warmer Atem strich ihm verführerisch über das Gesicht. Sanft zeichnete er mit den Fingerspitzen die Konturen ihres Halses nach und er registrierte zufrieden, wie ihr Puls sich unter seinen Fingern augenblicklich beschleunigte, ihr Körper sich sofort an ihn schmiegte und ihre Augen dunkel vor Verlangen wurden. Sie gehörte ihm ebenso wie er ihr gehörte. Unwiderruflich ewiglich.

AureliaWo Geschichten leben. Entdecke jetzt