Kapitel 91 ~ Onus sustinendum

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Die Geburt der kleinen Antonia lag nun schon vier Monate zurück und es war geradezu beängstigend, wie sich Aurelias Körper in dieser kurzen Zeit verändert hatte. Diese Frau versank so tief in ihren unzähligen Aufgaben und Pflichten, dass sie sich kaum Zeit zum Atmen nahm. So dünn hatte Clemens sie noch nie in seinem Leben gesehen und diese äußerlichen Veränderungen beunruhigten ihn zutiefst. Wie sollte er für ihren Mann auf sie Acht geben, wenn sie so fahrlässig mit ihrer Gesundheit spielte? In seiner Rolle als stiller und unauffälliger Beobachter der feinen Gesellschaft hatte Clemens genügend Männer mit diesen Symptomen gesehen, um zu wissen, dass Aurelia in einem sehr gefährlichen Spiel gegen sich selbst gefangen war.
Die wenige freie Zeit, zu der er sie nötigen musste, verbrachte sie mit ihren Kindern und vor allem der kleine Julius blühte in der Nähe seiner Mutter auf. Mittlerweile sehnte er sehnlichst den Sommer herbei, den sie wieder am Golf von Neapel verbringen würden. Auch dort würde Aurelia nicht aufhören zu arbeiten, aber wenigstens war ihr Tagesablauf nicht so voll wie in Rom – wofür Clemens und Prunia in aller Stille sorgten.
Aber Clemens musste sich nicht nur um ihre Gesundheit sorgen, sondern ihn beschäftigte seit Monaten die Frage, wer hinter dem gescheiterten Anschlag auf Aurelia steckte. Jeder einzelne Brief, den er im Haus des Arztes sichergestellt hatte, war mit einem einzigen Buchstaben unterzeichnet worden. N. Wer sollte nur N sein? Naevius? Nautius? Neratius? Nonius? Novius? Es gab so wenige und zu gleich zu viele Möglichkeiten, aber keine konnte ihn überzeugen. Die meisten Männer, die ihren Namen mit einem N verkürzen würden, waren so unbedeutend, dass sie niemals genug Verbündete um sich scharren könnten, als dass ihre Pläne jemals auch nur ansatzweise von Erfolg gekrönt sein könnten.
Immer wieder hatte er mit dem Gedanken gespielt Aurelia um Erlaubnis zu bitten die in Frage kommenden Männern diskret zu durchsuchen. Aber ihr Befehl war eindeutig. Sie mussten ihre Feinde in Sicherheit wiegen, sonst würden sie sofort angreifen und dass konnte einen Bürgerkrieg bedeuten, solange Gaius in Britannien war. Allerdings würde es auch zum Bürgerkrieg kommen, wenn Gaius mitsamt seiner Erben in Rom ermordet werden würde. Es gab so viele Szenarien, die eintreffen konnten, dass Clemens mittlerweile den Überblick verloren hatte und nur die wenigsten endeten nicht in einem blutigen Gemetzel.
Geduldig beobachtete Clemens die durch das Atrium huschenden Sklaven. Hinter der Tür in seinem Rücken befand sich das öffentliche Arbeitszimmer, in dem Aurelia ihren letzten Klienten der heutigen salutatio anhörte. Morgen würde das ganze Spiel von vorn beginnen.
Aus dem Schatten einer Säule huschte eine junge Sklavin, noch ein Mädchen und drückte ihm mit gesenktem Blick eine Schriftrolle in die Hand. Überrascht blickte er ihr nach und wog die kleine Rolle in seiner Hand. Einen Augenblick war er sich sicher, dass diese Botschaft für Aurelia bestimmt war und sich das Mädchen nur nicht getraut hatte ihre Herrin zu stören. Aber dann fiel ihm ein, dass es nicht zu seiner Aufgabe gehörte Briefe an sie weiterzureichen. Immerhin war er der Präfekt der Prätorianergarde in Uniform und kein dahergelaufener Sekretär in einer Tunika.
Unschlüssig musterte er die Rolle. Er bekam so selten Briefe, dass jeder Brief nur eines bedeutete: eine schlechte Nachricht. Darum würde er sich später kümmern. Gerade als er die Schriftrolle in eine Halterung an seinem Brustpanzer steckte, öffnete sich die Tür und Aurelias Klient verließ pfeifend das Studienzimmer. Mit einem höflichen Lächeln auf dem Gesicht blieb Aurelia auf der Schwelle stehen und blickte ihm nach. Sobald sich die Haustür hinter ihm schloss, machte sie auf dem Absatz kehrt und ließ sich zu seiner Überraschung auf ein kleines Sofa fallen. Erschöpft schloss sie die Augen und massierte sich die Schläfen.
Besorgt folgte er ihr in das prächtige Zimmer und schloss die Tür hinter sich, um neugierige Augen auszuschließen. Ihre Lider öffneten sich flatternd, als er sich auf den Sessel neben dem Sofa setzte.
„Heute beginnt die Feldzugsaison", murmelte sie und für einen kurzen Augenblick gestattete sie ihm hinter ihre Maske zu blicken. Die Angst in ihren Augen ließ sein Herz schwer werden. Er hatte ganz vergessen, dass während hier in Rom das Leben seinen Lauf nahm, in Britannien die Legionen ihr Winterlager verließen und weiter nach Norden zogen. Nervös strich er sich durchs Haar und suchte nach Worten, aber was sollte er einer Frau sagen, deren Mann so fern der Heimat im Krieg war?
„Was ist das für ein Brief, den du bekommen hast?", wollte sie in unbekümmertem Plauderton wissen und er zuckte nur die Schultern.
„Es wäre mir lieber, wenn du ihn jetzt lesen würdest und nicht später", sagte sie und behielt den sorglosen Ton perfekt bei. „Schlechte Nachrichten werden nicht besser, wenn man sie aufschiebt, mein Freund."
Mit einem Seufzen brach er das Siegel, entrollte den Brief und überflog die Grußformel. Der Brief stammte von seinem Gutsverwalter. Verwirrt und mit einem mulmigen Gefühl in der Magengegend überflog Clemens die ersten Zeilen des Briefes. Mit jedem Wort schwand seine Verwirrung und das ungute Gefühl in seinem Bauch wich einer bodenlosen Leere. Fannia war vor ein paar Tagen nach der Geburt ihrer gemeinsamen Tochter gestorben. Das Kind würde im Augenblick von einer Amme versorgt. Die Bestattung würde in wenigen Tagen nach Fannias Wünschen durchgeführt werden. Aber die Zeit war zu kurz, als dass er bei ihrem Begräbnis anwesend sein könnte. Dafür war der Weg zu lang und ihr Wunsch drei Tage nach ihrem Tod bestattet zu werden zu sehr von allen Lebenden akzeptiert. Sie mussten seine Frau beisetzen. Ohne ihn.
Abgesehen von dieser schrecklichen Nachricht, erkundigte sich der Gutsverwalter nach der weiteren Vorgehensweise. Marcus und die kleine Arrecina würden zwar durch die Sklaven wie gewohnt versorgt. Aber es fehlte jemand, der die Erziehung der Kinder beaufsichtigte. Nur zu deutlich verstand Clemens, was sein Gutsverwalter ihm mitzuteilen versuchte, sich aber nicht direkt anzusprechen wagte. Die Kinder brauchten ihren Vater. Jetzt.
„Und?", hakte Aurelia sanft nach und Clemens riss seine Augen vom Papyrus los. „Was ist geschehen?"
„Meine Frau", begann Clemens, aber seine zitternde Stimme brach und er spürte Tränen in seine Augen aufsteigen. Wortlos erhob sich Aurelia von ihrem Stuhl, nahm ihm den Brief aus den bebenden Händen und überflog die Mitteilung seines Gutsverwalters. Ihre linke Hand legte sie beim Lesen mitfühlend auf seine Schulter und diese kleine Geste gab ihm Kraft. Vorsichtig blickte er auf, doch ihr schönes Gesicht blickte hinaus auf die sanften Hügel Roms. Nach ein paar Wimpernschlägen riss sie sich von dem Anblick los, zog ihre Hand zurück und gab ihm seinen Brief zurück.
„Deine Kinder sind in meinem Haus jederzeit willkommen", murmelte sie, kehrte zu ihrem Schreibtisch zurück und arbeitete weiter. Nachdenklich beobachtete er sie bei ihren stillen Tätigkeiten und dachte über ihren Vorschlag ernsthaft nach.
Als Mitglied der Prätorianergarde hatte ihn Fannias Abneigung gegen Rom nie gestört. Vor allem nach der Geburt seines Sohnes und seinem Aufstieg zum Präfekten der Garde war ihre standhafte Weigerung nach Rom zu ziehen wie ein Segen erschienen. Konnte man seine Liebsten auf eine andere Art besser beschützen, als ihre Existenz vor Freunden und Feinden zu verbergen? Aber Fannia war nicht mehr da und er sehnte sich nach seinen Kindern. Marcus' Chancen würden um so vieles besser stehen, wenn er im Herzen Roms aufwuchs. Wie sollte er in einer Welt bestehen, die er nicht kannte? Clemens war zu hoch aufgestiegen, als dass sein Sohn jemals ein unbehelligtes Leben führen konnte. Also warum sollte er die Kinder nicht bei sich haben, hier für ihre Sicherheit sorgen und ihnen hier die Dinge lehren, die ihr Bestehen in dieser Gesellschaft ermöglichte?
Gedankenverloren schloss er die Augen und bat Fannia stumm um Verzeihung. Seine Entscheidung war gefallen. Mit einem leisen Räuspern machte er Aurelia auf sich aufmerksam und sie hob sofort den Kopf. Ein sanftes, mitfühlendes Lächeln lag auf ihren Lippen. Sie hatte nur auf eine Reaktion gewartet. Ein letztes Mal atmete Clemens tief durch und hörte in sich hinein. Aber sein Herz sagte ihm, dass er das Richtige für seine Familie tat. Mit fester Stimme verkündete er: „Ich nehme dein Angebot gern an."

AureliaWo Geschichten leben. Entdecke jetzt