Kapitel 5 ~ Gestrandet

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Seit drei Tagen saß Aurelia nun schon am Fenster und starrte hinaus auf die Bucht. Doch sie wachte einfach nicht auf. Sie aß nicht, sie trank nichts, sie sprach nicht, sie schaute einfach nur hinaus aufs Meer. Irgendwann hatte sie keine Tränen mehr gehabt, die sie hätte vergießen können. Sie fühlte sich einfach nur leer.
Sie registrierte, wenn Caligula kam oder ging. Manchmal setzte er sich neben sie und blickte aufs Meer hinaus, als ob er sie zu verstehen versuchte. Doch sie hatte nicht einmal mehr die Kraft vor ihm zurückzuweichen. Ob der Wahnsinn bereits seinen Verstand vergiftete? Sie wusste es nicht. Verzweifelt versuchte sie sich an die wenigen Dinge zu erinnern, die sie über ihn wusste. Doch hatte sie sich bis jetzt mehr für Cicero, Vespasian und Seneca interessiert. Über Caligula wusste sie nur, dass er zu Beginn ein guter Kaiser gewesen war, dann aber nach einer plötzlichen Krankheit (vielleicht durch Gift oder Stress) dem Wahnsinn verfiel. Einmal hatte er sogar sein Pferd zum Konsul ernannt. Irgendwann im Jahre 41 n. Chr. war Caligula von seinen Prätorianern ermordet und durch seinen verkrüppelten Onkel Claudius ersetzt wurden. Wenn sie sich nicht verrechnet hätte, dann würde er in einem Jahr bereits über Rom herrschen. Doch was ihr am meisten Kopfschmerzen bereitete, war eine Frage: Was hatte der wohl berüchtigtste Kaiser der römischen Geschichte mit ihr vor? Er hätte sie am Strand einfach den Wachen seines paranoiden Großonkels Tiberius überlassen können. Hatte Tiberius nicht eine Vorliebe Eindringlinge und Gäste von den Klippen zu stoßen? Warum war sie hier?
Plötzlich legte sich eine warme, kleine Hand auf ihre Schulter. Überrascht löste sie sich vom Meer unter ihr und blickte in das freundliche Gesicht einer alten Frau. Caligula konnte sie nirgends entdecken.
„Wer bist du?", fragte sie und ihre Stimme ächzte nach dem tagelangen Schweigen. Die Alte lächelte gutmütig und reichte ihr einen Becher. Unsicher griff sie danach und starrte das trübe Getränk an. War das etwa mit Wasser verdünnter Wein? Vorsichtig nippte sie daran. Der Wein war trotz des Wassers überraschend süß und leicht. Würde er blubbern, könnte er glatt als Fruchtsekt durchgehen können. Erinnerungen an laue Sommernächte im Garten ihrer Großmutter kamen ihr in den Sinn.
Verwirrt musterte sie über den Becherrand die alte Frau, dann leerte sie den Becher mit einem Schluck. Genervt wischte sie sich einen Tropfen Weinwasser vom Kinn. Warum konnte sie nicht einfach wie jeder normale Mensch ordentlich trinken. Hastig begutachtete sie ihr Kleid, doch das Weiß war noch immer makellos.
„Mein Name, Kind", begann die alte Frau plötzlich und Aurelia blickte ihr in die Augen. „Ist Sophia. Es überrascht mich, dass Ihr Euch für den Namen einer einfachen Sklavin interessiert. Das tun die Wenigsten Eures Standes"
Aurelia runzelte die Stirn. Ihres Standes? Im Moment war sie doch nicht mehr wert als Sophia. Dann dämmerte ihr plötzlich, dass dies vielleicht ursprünglich Caligulas Plan gewesen war. Nachdem sie wieder gesund war sie in die Sklaverei zu verkaufen. Als die Sklavin ihre zunehmende Panik spürte, ergriff sie Aurelias Hand und drückte sie kurz. Sofort wurde Aurelia ruhiger.
„Esst!", forderte Sophia sie auf und drückte in ihre Hände eine Schüssel Haferbrei und einen Löffel. Aurelia setzte sich aufrechter hin, dann begann sie ohne zu murren den Brei auszulöffeln. Bis jetzt hatte sie den ganzen Hype um Porrige, was ja im Grunde nur Haferbrei mit seinem englischen Namen war, nicht nachvollziehen können. Aber diese Schüssel schmeckte einfach köstlich. Nicht zu süß, nicht zu sehr nach Hafer. Einfach, aber köstlich. Viel zu schnell hatte sie die Holzschale gelehrt und gab sie Sophia zurück.
„Danke, Sophia", meinte Aurelia. „Es war sehr lecker"
Verwundert, aber erfreut stand die alte Frau auf und verließ ohne sich noch einmal umzublicken das Zimmer. Bevor Aurelia in den Sinn kam, wie seltsam ihre Begegnung mit der alten Frau doch gewesen war, sank sie in die Kissen zurück und schlief ein.

Leise schloss Sophia die schwere Tür hinter sich. Sofort blickte der junge Herr, der lässig an der Wand gegenüber lehnte, auf und fragte besorgt, ob das Mädchen endlich etwas zu sich genommen hatte. Sophia deutete wortlos auf die leere Schüssel und den leeren Becher und der junge Herr atmete erleichtert auf. Wie zu sich selbst murmelte er, dass sie von ihm nichts hatte essen wollen. Unsicher trat die alte Sklavin von einem Fuß auf den anderen. Es stand ihr nicht zu etwas zu sagen, wenn es ihr nicht erlaubt worden war. Doch dann dachte sie an das Mädchen, dem sie auf Drängen des jungen Herrn ein Schlafmittel in den Wein gemischt hatte.
„Ihr macht ihr Angst", murmelte Sophia und sofort bohrten sich seine Augen in die ihren. Doch da war keine Wut, weil sie ihn unerlaubt angesprochen hatte, nur Hoffnungslosigkeit.
„Ich weiß", murmelte der junge Herr und seufzte schwer. „Ich weiß"
Mit hängenden Schultern ging er an ihr vorbei und bevor er die Tür öffnen konnte, sagte sie rasch: „Sie hat ihr Mahlzeit im Sitzen eingenommen"
Mitten in der Bewegung erstarrte er.
„Bist du dir sicher?", verlangte der junge Herr zu wissen und wechselte einen Blick mit Prätorianer Clemens. Sophia nickte schweren Herzens.

AureliaWo Geschichten leben. Entdecke jetzt