Kapitel 58 ~ consilia capiunt

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Am liebsten würde Aurelia die Dokumente zurück an deren Plätze auf Gaius‘ Schreibtisch legen und sich wieder in ihrem warmen Bett an ihn kuscheln. Aber sie hatte sich fest vorgenommen Gaius künftig zu entlasten und so griff sie, während sie ein müdes Gähnen unterdrückte, nach dem nächsten Schriftstück. Langsam erschloss sich ihr das System dieser Arbeit. Doch es verwirrte sie, weshalb Gaius sich ausgerechnet jetzt diese Auflistung von Ausgaben und Einnahmen ansah. Irgendwie war sie immer davon ausgegangen, dass die Arbeit eines Kaisers (oder wie sie ihn in dieser Zeit noch nannten Princeps) aufregender sei.
Fröstelnd zog Aurelia ihren Mantel enger um sich, legte das letzte Dokument zurück auf den Tisch, nahm sich eine der am Rand des Tisches liegenden Wachstafeln und begann mit Gaius‘ Calamus leise Notizen in das harte Wachs zu ritzen. Zwar hatte sie keine Ahnung, wie sie jemals feststellen sollte, inwiefern bei den Steuereinnahmen der Staat durch die Statthalter betrogen worden war, aber sie hatte einige Ideen, wie man das eingenommene Geld vielleicht besser ausgeben konnte als für noch mehr exotische Tiere, die nur zum Vergnügen des wankelmütigen Volkes im Zirkus abgeschlachtet werden sollten. Schon bald hörte sie Gaius‘ Schritte auf sich zukommen und legte vorsichtig die Schreibutensilien aus der Hand.
„Guten Morgen“, begrüßte sie ihn grinsend. Dieser lächelte müde und fragte, ob sie nicht erst einmal etwas essen möchte, bevor sie mit der Arbeit begannen. Aurelia schüttelte nur den Kopf, worauf Gaius nickte und sich ihr gegenüber auf einen der Sessel fallen ließ. Doch statt sich in seine Schriftstücke zu vergraben, setzte Gaius seine Ellbogen auf der Tischplatte ab, verschränkte die Hände, legte seinen Kopf auf seine Handrücken und fixierte Aurelia müde. Ungerührt ergriff sie wieder den Calamus und fuhr mit ihren Notizen fort.
Nach einer Weile erinnerte ihr Mann sie plötzlich an einen Welpen, der versuchte sein Herrchen besonders niedlich anzusehen, um seine Aufmerksamkeit zu bekommen. Nur das Gaius sie nicht nur die ganze Zeit mit großen Augen ansah. Immer wieder ergriff er eines der Schriftstücke und legte es sofort wieder zurück, unterdrückte mühsam ein Gähnen, zupfte an seiner Tunika, fuhr sich mit der Hand durchs Haar oder sah sich im Raum um. Aurelia schrieb demonstrativ weiter. Als ihr letzter Gedanke ihr aus dem Wachs entgegensah, hob sie vorsichtig den Blick und verlor sich in einem Paar himmelblauer Augen.
„Ist dir in den Unterlagen irgendetwas aufgefallen?“, riss seine noch vom Schlaf raue Stimme sie aus ihrer Versunkenheit. Ertappt blinzelte sie und schüttelte leicht den Kopf, worauf sich seine Lippen zu einem feinen, amüsierten Lächeln verzogen. Er wusste genau, was er für einen Effekt auf sie hatte.
Gelassen drehte sie ihre Wachstafel und legte sie vor ihm auf dem Tisch ab. Interessiert beugte er sich über ihre stichpunktartigen Notizen. Mit jedem Wort, welches er las, wurde sein ganzer Körper wacher. Immer wieder drehte und wendete er die Tafel, während seine Augen immer schneller über die einzelnen Buchstaben wanderten. Ruckartig hob er den Kopf und seine herrlichen Augen bohrten sich in die ihren. Bemüht ruhig verlangte er von ihr zu erfahren, was das zu bedeuten habe und hob zur Demonstration die Wachstafel in die Höhe.
„Ich bin kein Buchhalter und auch kein Rechnungsprüfer“, erwiderte sie ruhig. „Falls du Ungereimtheiten finden möchtest, solltest du dich an Vespasian wenden. Er ist darin weit versierter als ich. Das sind lediglich Vorschläge, worin die Steuern besser investiert wären“
Rasch legte Gaius ihre Wachstafel neben die Auflistung der Steuerausgaben seit Beginn seines Prinzipats und der Aufzählung seiner geplanten Bauprojekte. Gemeinsam gingen sie jeden einzelnen Punkt dieser drei Listen durch und diskutierten diese. Jeder von ihnen argumentierte und feilschte für seine Ideen mit allem, was er hatte. Langsam begannen ihre Gefühle sich aufzuschaukeln. Nach einer Weile sprang Gaius von seinem Stuhl auf, welcher mit einem Knall nach hinten flog und erklärte aus tiefster Seele: „Augustus hat eine Stadt aus Back…“
„Backsteinen vorgefunden und eine aus Marmor hinterlassen“, unterbrach sie ihn in seinem schulmeisterlichen Ton ungeduldig nachahmend und warf genervt seine Pläne zurück auf dem Tisch. Fahrig erhob sie sich, schlüpfte an dem Tisch zwischen ihnen vorbei, baute sich direkt vor Gaius auf und tippte ihm mit dem Zeigefinger gegen die muskulöse Brust.
„Du bist aber nicht Augustus!“, rief sie. „Du bist Gaius Julius Caesar, der Sohn des Germanicus! Du hast es nicht nötig irgendwelche sinnlosen Verschnörkelungen und protzigen Paläste zu bauen, wie es jeder Princeps vor dir getan hat! Geh deinen eigenen Weg und erschaffe Dinge, die dein Volk voranbringen! Bau Schulen, eine Universität oder meinetwegen auch ein Amphitheater, in dem man nach belieben Gladiatoren kämpfen oder Seeschlachten abhalten kann! Aber ahme nicht jemanden nach, nur weil du das Gefühl hast mehr wie er sein zu müssen“
Aufgewühlt blickte er auf sie herab und Aurelia zwang sich seinem Blick stand zu halten. Langsam wich die Anspannung aus seinem Gesicht. Sanft legte er seine Hände auf ihre Hüften und zog sie näher zu sich.
„Du hast recht“, flüsterte er und hauchte einen federleichten Kuss auf ihren Scheitel. „Bitte reg dich in deinem Zustand nicht auf“
Aurelia verdrehte nur die Augen und legte ihre Arme um seinen Hals. Nervös nagte sie an ihrer Unterlippe. Zaghaft erkundigte sie sich, ob es irgendeinen Test gebe, mit dem sie ihre Vermutung bestätigen könnten. Gaius legte behutsam seine rechte Hand auf ihre Wange und antwortete: „Ehrlich gesagt wurde deine Schwangerschaft bereits durch die üblichen Tests bestätigt. Schon vor ein paar Tagen hatte ich so ein Gefühl und habe alles in die Wege geleitet“
„Warum hast du mir nichts gesagt?“, verlangte sie überrascht zu erfahren.
„Ich dachte, du würdest es bereits ebenfalls vermuten“, erwiderte er schlicht und vergrub seine Hand in ihrem Haar. Nachdenklich schüttelte sie den Kopf, schmiegte sich an ihn, schloss die Augen und genoss ihren gemeinsamen Augenblick der Stille. In den vergangenen Wochen seit ihrer Hochzeit hatte ein turbulentes Ereignis das nächste gejagt, weshalb sie auf sich selbst kaum geachtet hatte. Andere Dinge waren ihr wichtiger vorgekommen.
Ein zaghaftes Klopfen gegen den Türrahmen holte sie beide aus ihrer eigenen kleinen Welt. Gaius‘ zutiefst verlegen wirkender Sekretär trat unbeholfen von einem Fuß auf den anderen, wich ihren Blicken aus und brachte mühsam die Botschaft heraus, dass Gemellus gerne mit ihnen sprechen würde. Der arme Freigelassene wurde sogar rot, als er betonte, Gemellus bestehe auf Aurelias Anwesenheit.
„Möchtest du mich zu Gemellus begleiten, mein Herz?“, fragte Gaius leise und sofort tauchten vor Aurelias geistigem Auge die Bilder von ihrem ersten und letzten Aufenthalt in Gemellus‘ Zelle.
„Gaius, ich werde immer an deiner Seite sein, wenn du mich brauchst“, versprach sie ernst. Gaius nickte nur und erteilte seinem Sekretär, dessen Name anscheinend Hesiod lautete, eine Reihe von Befehlen. Der Freigelassene nickte hastig, machte sofort auf dem Absatz kehrt und Aurelia hatte das Gefühl, im nächsten Moment tauchten all ihre Bedienstete in ihre Gemächer auf und stürzten sich in die mittlerweile entstandene Routine ihrer Arbeiten. In Rekordgeschwindigkeit waren Gaius und Aurelia gewaschen, frisiert und ausgehfertig angekleidet worden, sodass sie sogar noch ein rasches Frühstück zu sich nehmen konnten.
Bevor sie ihre Gemächer verließen, schob Gaius seine Finger zwischen die ihren und fragte leise, was eine Universität sei. Verwirrt runzelte Aurelia die Stirn und beobachtete unbehaglich wie sich die schwere Tür öffnete. Clemens nickte ihnen zum Gruß zu und Aurelia entspannte sich etwas. Fragend drückte Gaius ihre Hand und plötzlich verstand sie den wahren Grund seiner Frage: Ihm war genau so unwohl noch einmal in diese Zelle herabzusteigen wie ihr und deshalb wollte er seinen Geist auf andere Gedanken bringen. Mit einem feinen Lächeln auf den Lippen hob sie ihren Mund an sein Ohr und begann ihm von einem kleinen Teil ihrer Welt zu erzählen. Immer wieder sah sie sich verstohlen um, ob auch wirklich niemand ihre geflüsterte Unterhaltung belauschte.
Plötzlich standen sie vor einer wuchtigen Holztür in einem schlecht beleuchteten Korridor und Aurelia hörte mitten in ihrer Erzählung auf zu sprechen. Mit einem Mal kam ihr die Idee einer Universität im antiken Rom unbedeutend und nichtig im Vergleich zu dem vor, was sie beide hinter dieser Tür erwarten würde. Gaius neben ihr sog scharf die Luft ein und drückte ihre Hand etwas zu fest. Aurelia ignorierte den aufkeimenden Schmerz und fuhr ihm sanft mit ihrem Daumen über den Handrücken. Sofort entspannte er sich etwas, minderte den Druck um ihre Hand und nickte Clemens zu. Dieser klopfte drei Mal gegen die Tür, ein Schlüssel drehte sich im Schloss und die schwere Tür schwang auf.
Irgendwer hatte drei Stühle und einen Tisch in der Mitte der Zelle aufgestellt, auf einem dieser Stühle hatte Gemellus bereits Platz genommen. Sein Gesicht wirkte im Schein der Öllampe blass, doch seine Augen waren nicht länger von seinen verzweifelten Tränen verquollen und gerötet. Der Junge vor ihnen saß aufrecht und geduldig auf seinem Stuhl wie ein unartiger Schüler auf den Tadel seines Lehrers. Aus ernsten, klaren Augen blickte Gemellus zu ihnen auf und ein kleines Lächeln huschte über sein Gesicht.
„Danke, dass ihr gekommen seid“, füllte Gemellus‘ überraschend klare Stimme den Raum. Aurelia erwiderte, ohne zu zögern Gemellus lächeln, während Gaius sie geradewegs auf einen der beiden freien Stühle führte. Nachdem sie sich gesetzt hatte, zog Gaius den letzten freien Stuhl neben ihren und nahm Platz. Ihre Hand hatte er zwar losgelassen, doch saßen sie so nah beieinander, dass sie einander immer wieder leicht berührten, wenn sie sich bewegten.
„Du wolltest mich sprechen, Gemellus“, verlangte Gaius zu erfahren und nicht nur Aurelia konnte die Anspannung an seiner Stimme erkennen. Gemellus schluckte und warf Aurelia einen nervösen Seitenblick zu ehe er sich wieder auf Gaius konzentrierte.
„Ich habe lange nachgedacht“, sagte Gemellus und legte seine gefalteten Hände auf dem Tisch ab. „Ich werde dich in deiner Anklage gegen Macro unterstützen. Ich werde öffentlich für dich aussagen und ich unterwerfe mich eurer Gnade. Ich vertraue eurem Urteil“
Aus dem Augenwinkel sah sie, wie Gaius Körper erleichtert aufatmete und er sich leicht gegen sie lehnte, während Gemellus seine Augen interessiert auf Aurelia richtete, als würde er langsam begreifen, was für eine Rolle sie in diesem Spiel spielte.

AureliaWo Geschichten leben. Entdecke jetzt