Kapitel 84 ~ Reditus

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Die langsam untergehende Sonne tauchte die Stadt der sieben Hügel in ihr goldenes Licht und verlieh ihr etwas Magisches, so als wäre sie ein wundervoller Traum. Aber diese malerische Idylle war trügerisch. Das hatte Aurelia in den vergangenen Jahren lernen müssen. Es war etwas anderes von einer Geschichte nur zu lesen, als plötzlich eine bedeutende Rolle in ihr zu übernehmen. In den vergangenen beiden Monaten ihrer Abwesenheit war kein Tag vergangen, an dem diese Stadt nicht ihre Gedanken beherrscht hatte. Ebenso wenig hatte sie keine einzige Nacht erlebt, in der sie nicht von ihr geträumt hatte. Rom war nicht nur das Zentrum eines Weltreiches. Es war das Zentrum ihres Lebens, welches sich ironischerweise im Herzen der Stadt selbst befand. Ihr Leben war ebenso unwiderruflich mit den Geschicken Roms verknüpft wie umgekehrt. Antonia hatte ihr in einem ihrer Briefe geschrieben, dass man sie nun nicht mehr als römische Helena bezeichnen würde. Das Volk bezeichnete sie mittlerweile als mater matriae. Sorge bereiteten ihr beide Spitznamen. Der Erste war zu griechisch und der Zweite, nun sie war nur eine Frau und den Senatoren musste dieser übertriebene Ehrtitel mittlerweile ein Dorn im Auge sein – vor allem, weil sie ihn ihr nicht verliehen hatten. Sie würde sich also hüten sich als Mutter des Mutterlandes zu bezeichnen, solange der Senat sie nicht als solche sah.
Aber wirklich Sorge bereitete ihr die Tatsache, wie Recht das Volk in Bezug auf ihre Rolle als Mutter hatte. Clemens und ihr Stab hatten Aurelias erneute Schwangerschaft bisher nicht nach außen dringen lassen und die Magistrate und Gäste, die sie am Golf von Neapel empfangen hatten, schwiegen eisern. Mittlerweile konnte sie ihre Schwangerschaft nicht mehr verbergen und sie hoffte, dass ihre Position bereits ausreichend gefestigt war. Denn der Sturm des Senats würde kommen. Das wusste sie nur zu gut. Wenn alles so in der Schwebe war, fühlte sie sich immer so hilflos und machtlos. Noch gab es zu vieles, was sich ihrer Kontrolle gänzlich entzog.
„Fühlst du dich nicht wohl, Mama?", flüsterte eine unsichere Stimme und riss sie aus der Welt ihrer Gedanken. Schnell löste sie sich von dem atemberaubenden Anblick der alles beherrschenden Stadt, der sie sich unausweichlich näherten und richtete ihre ganze Aufmerksamkeit auf den kleinen Jungen, der neben ihr saß und sie aufmerksam musterte. Am liebsten hätte Aurelia ihrem Sohn erzählt, wie krank die Ungewissheit sie machte. Es trieb sie an den Rand des Wahnsinns die verschiedenen Szenarien ihrer Rückkehr zu fantasieren und zur gleichen Zeit Pläne zu schmieden, damit diese nicht eintrafen. Aber seine großen, goldenen Kinderaugen blickten sie voller unschuldiger Sorge an, dass sie ihm diese Last nicht aufbürden konnte. Julius war noch immer ein Kind. Gaius und sie mussten lange genug leben, dass seine Kindheit glücklich war. Rom war sein Zuhause, ein riesiger Spielplatz. Diese Illusion konnte sie ihm einfach nicht nehmen. Noch nicht. Erwachsen würde er noch früh genug werden. Automatisch legte sich ein Lächeln auf ihre Lippen und sie strich ihm eine wirre Locke aus dem Gesicht.
„Es ist alles in Ordnung, mein Schatz", versicherte sie ihm und wechselte schnell das Thema. Während er ihr begeistert von einem neuen Spiel erzählte, welches er Titus unbedingt zeigen wollte, begann sie sich langsam zu entspannen. Unbewusst legte sie eine Hand auf ihren Bauch und freute sich über den kleinen Stups, den sie spürte. Julius war von der Nachricht bald ein großer Bruder zu sein vollkommen begeistert gewesen. Er konnte es gar nicht erwarten, aber überraschenderweise verlor er über die Schwangerschaft seiner Mutter zu Außenstehenden kein Wort, so als würde er spüren, wie wichtig die Wahrung dieses Geheimnisses war.

Nach Einbruch der Dunkelheit kam die über das Kopfsteinpflaster polternde Raeda endlich zum Stehen und für einen kostbaren Augenblick waren Mutter und Sohn von Stille umgeben. Dann bellte Clemens einen Befehl und wie bei einem Theaterstück befand sich plötzlich jeder an seinem vorgegebenen Platz und nahm seine ihm vorbestimmte Rolle ein. Aurelia unterdrückte ein Seufzen, während Julius bereits aus der Kutsche sprang und ihr seine Hand zur Hilfe anbot. Dieser Anblick wärmte ihr Herz und zauberte ein strahlendes Lächeln auf ihr Gesicht. Schnell richtete sie sich auf, ergriff seine kleine Hand und stieg aus der Kutsche. Noch war sie nicht zu schwerfällig.
Als die kühle Nachtluft in ihre Knochen fuhr, zog sie instinktiv ihren Mantel enger um sich und drehte sich nach Clemens um. Aber er war zu sehr damit beschäftigt sich mit den anderen Prätorianern abzustimmen, um sie zu bemerken. Fragend musterte sie Julius, der mit aller Kraft versuchte nicht zu zittern. Beruhigend nickte sie ihm zu und gemeinsam liefen sie ins warme Atrium. Dort waren die Sklaven bereits damit beschäftigt ihr Gepäck nach oben zu bringen. Aus dem Nichts erschien ein junger Küchensklave, wenn sie sich recht erinnerte, hieß er entweder Ariovist oder Gorovist. In seinen Händen hielt er ein Tablett mit Erfrischungen.
„Ist meine Schwägerin bereits eingetroffen?", fragte Aurelia den Jungen, als sie sich einen der Pokale nahm, aber bevor er ihr antworten konnte, rief Julias Stimme bereits ihren Namen. Schnell drehte sie sich zu der Rufenden um und Julius reckte den Kopf. Vermutlich suchte er bereits nach seinen Freunden. Aber Aurelias Lächeln gefror, als Julias Blick an ihrem Bauch haften blieb und ihre Schwägerin für einen Augenblick fieberhaft versuchte die Situation zu verstehen.
Aurelia strich Julius sanft über den Kopf, dann gab sie Julia ein Zeichen ihr zu folgen und marschierte in Richtung von Gaius' Arbeitszimmer davon. Sie konnte dieses Gespräch nicht mehr länger herauszögern.
In ihrem Arbeitszimmer überlegte Aurelia einen Augenblick, dann rief sie nach Prunia und trug ihr auf ihnen Wein zu bringen. Julia würde ihn brauchen. Schweigend betrat Julia das Zimmer und blickte sich unbehaglich um. Wahrscheinlich hatte sie es noch nie von Innen gesehen. Kurz erwog Aurelia erst einmal die angekommenen Briefe zu sichten, während sie auf Prunias Rückkehr warteten, aber vielleicht war dies nicht der beste Weg. Also setzte sie ein höfliches Lächeln auf und erkundigte sich nach Julias Befinden. Aus ihren Gedanken gerissen blinzelte Julia kurz, dann griff sie das Thema auf und zwischen ihnen entwickelte sich ein kurzes, unverfängliches Gespräch.
Erst als sich in Julias Händen ein voller Weinkelch befand und sich die Tür hinter Prunia schloss, verstummte Julia, verschränkte die Arme vor der Brust und wartete darauf, dass Aurelia zu sprechen begann.
Aurelia strich sich mit einem Seufzen eine lose Haarsträhne aus dem Gesicht und hielt Julias bohrendem Blick stand. Sie hatte nichts falsch gemacht. Das redete sie sich zumindest seit Monaten ein. Mit selbstsicherer Stimme und um einen sachlichen Ton bemüht schilderte Aurelia kurz ihre Sicht über die Ereignisse, seit sie von ihrer Schwangerschaft erfahren hatte. Nach einer Weile sank Julia kraftlos auf einen der Sessel und schüttelte fassungslos den Kopf. Fast hatte Aurelia Mitleid mit ihr. Ihren Widerwillen verbergend setzte sich Aurelia auf den zweiten Sessel und kam auf Agrippinas Verrat zu sprechen.
„Warum hast du mir nicht einfach alles erklärt?", wollte Julia wissen, als Aurelia geendet hatte und musterte sie fassungslos. Bevor sie beteuern konnte, dass sie Aurelia verstanden hätte, beugte Aurelia sich vor und ignorierte den Duft des schweren Parfums, der ihr in die Nase drang. Sie konnte es sich nicht leisten jetzt Schwäche zu zeigen.
„Ich bin nicht in der Position, dass ich mir einen weiteren Fehler erlauben kann", erwiderte sie mit fester Stimme. „Ich kann kein Risiko eingehen und damit die Sicherheit unserer ganzen Familie aufs Spiel setzen. Agrippina hat nicht nur mich verraten, sondern uns alle. Wie kannst du mir in die Augen sehen und behaupten, dass du mir geholfen hättest, wenn ich das hier habe?"
Mit diesen Worten holte Aurelia einen Stapel Briefe aus einer Falte ihres Kleides hervor und ließ sie in Julias Schoß fallen. Jeder einzelne Brief war an Gaius adressiert und beinhaltete die Bitte zwischen seiner Frau und seiner Schwester zu vermitteln. Clemens hatte sie alle abgefangen. Er hatte seine unerschütterliche Loyalität seit Capri immer wieder unter Beweis gestellt.
Julia schluckte schwer, als sie ihr eigenes Siegel wiedererkannte und Röte stieg über ihren Hals in ihre Wangen auf. Ihre Atmung wurde schneller. Schämte sie sich oder hatte sie Angst? Aurelia war sicher, dass es sich um eine Mischung aus beidem handelte. Aurelia hatte immer gewusst, dass die julisch-claudische Dynastie keine normale Familie gewesen war. Aber deren Hang zu Intrigen und Selbstzerstörung immer wieder mit eigenen Augen beobachten zu können, überraschte sie doch mehr, als sie angenommen hatte. Würde sie es schaffen diese Familie von Grund auf zu verändern?
„Ich dachte, dass mein Bruder von den Geschehnissem erfahren sollte", fing Julia mit gepresster Stimme an sich zu rechtfertigen, während sich ihre Hände krampfhaft um die Schriftrollen klammerten.
„Gaius muss sich um wichtigere Dinge kümmern", widersprach Aurelia leise und erwiderte Julias tränenverschleierten Blick gelassen. „Er muss ein Land erobern und solange er fort ist, werde ich ihm in Rom den Rücken freihalten, damit ihn nichts von seiner Pflicht gegenüber unserem Land und unserem Volk ablenkt"
Eine Weile saßen sie schweigend beieinander und musterten sich eingehend. Plötzlich sprang Julia von ihrem Sessel, marschierte zum Kamin und warf die Briefe ins Feuer. Mit einem gewaltigen Zischen ging der Papyrus in Flammen auf, die ihn innerhalb weniger Augenblicke verzehrten. Zurück blieb nur ein Haufen Asche auf den sanft brennenden Holzscheiten. Interessiert beobachtete Aurelia, wie sich ihre Schwägerin schwungvoll zu ihr umdrehte und in deren Augen eine neue Entschlossenheit trat.
„Ich werde nicht den gleichen Fehler begehen wie meine Schwester. Ich vertraue deinem Urteil und ich werde keine Geheimnisse mehr vor dir haben. Ich werde tun, was du von mir wünschst", erklärte Julia feierlich und auf Aurelias Gesicht breitete sich ein feines Lächeln aus. Vielleicht war es für ihre Familie doch noch nicht zu spät, um eine richtige Familie zu werden – denn normal würden sie nie sein können.

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