Kapitel 57 ~ fata fortunasque

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Plötzlich verkrampfte sich Aurelia in seinen Armen und konnte den Blick nicht mehr von seinem Neffen abwenden. Unauffällig strich Gaius sanft über ihre Taille, aber sie schien seine beruhigende Geste nicht wahrzunehmen. Abrupt löste sie sich von ihm und erklärte, sie würde nach der langen Nacht einen Moment für sich brauchen. Kaum war das letzte Wort verklungen, rauschte sie auch schon aus dem Raum. Niemand hielt sie zurück. Dank seiner jahrelangen Übung konnte er seine Verwirrung geschickt vor seiner Familie verbergen. Eine Sekunde erwog er Aurelia ihren Freiraum zu lassen, doch ihre Reaktion auf den Namen des kleinen Lucius hatte ihn zutiefst erschrocken. Er nickte Agrippina zu und wollte Aurelia folgen, als eine Hand auf seinem Arm ihn zurückhielt. Genervt blickte er zu der Person, die ihn zurückhielt.
„Ihr könnt die Anzeichen nicht mehr ignorieren, Bruder", beschwor ihn Agrippina und Gaius ignorierte sie. Unwirsch schüttelte er ihre Hand ab, die kraftlos zurück auf das Bett fiel und Gaius folgte seiner Frau eilig aus dem Zimmer. Fieberhaft suchte er die Nischen, Balkone und Latrinen ab. Doch nirgends entdeckte er den vertrauten Schimmer ihrer goldenen Haare. Beunruhigt machte er sich auf den Weg zu ihren gemeinsamen Gemächer. Dort fand er sie endlich mit geschlossenen Augen auf dem Boden kauernd, neben ihr stand eine Schale mit Erbrochenem. Natürlich hatte sie sich so lange kontrolliert, bis sie sich sicher fühlte. Langsam setzte er sich neben sie und ergriff schweigend ihre Hand. Sie war eiskalt. Ihr Gesicht war unnatürlich blass. Tränen strömten über ihre Wangen und tropften auf ihre Stola. Ihre strenge Frisur hatte sich beinahe vollständig aufgelöst, sodass ihre Haare wirr und golden über ihre Schultern flossen. Ihr Anblick brach ihm das Herz. Am liebsten würde er sie in den Arm nehmen und ihr versichern, dass alles wieder gut werden würde.
„Es geht mir gut", meinte sie mit zittriger, hohler Stimme, als müsste sie sich selbst überzeugen und legte ihren Kopf auf seine Schulter. Besorgt küsste er ihren Scheitel. Er wusste, dass es ihr alles andere als gut ging. Ihre Nerven lagen blank. Gerade meinte sie, dass sie sich wahrscheinlich den Magen verdorben hatte. Wenn es doch nur das wäre.
„Hör auf", murmelte er sanft und sie verstummte. Ihre Lider öffneten sich flatternd und verwirrt blinzelte sie ihn an.
„Du hast dir nicht den Magen verdorben, Aurelia", erklärte er leise und atmete tief ein. Aber einer von ihnen musste es endlich aussprechen. Nur so würde es real werden.
„Ich hab das schon einmal erlebt", fuhr Gaius ernst fort. „Du erwartest ein Kind - unser Kind"
Mit großen Augen schaute sie ihn still an. Aus Reflex legte sie ihre freie Hand verunsichert auf ihren Bauch. Irgendwie hatte er sich dieses Gespräch anders vorgestellt. Irgendwie unbeschwerter. Irgendwann in der Zukunft.
Schweren Herzen begann er ihr von seiner ersten Ehefrau Iunia zu erzählen. Es war das erste Mal, dass er einem anderen Menschen die ganze, wahre Geschichte berichtete. Seine Ehe war vor vier Jahren von Tiberius arrangiert worden. Jeder wusste, dass sie zu diesem Zeitpunkt Tiberius' Geliebte gewesen war und dieser sich von der Ehe nur eine loyale Spionin im Bett seines Verwandten erhofft hatte. Seine Hochzeitsnacht verbrachte er im Nebenraum, während Tiberius sich mit ihr vergnügte. Zu diesem Zeitpunkt war sie bereits schwanger. Doch auch sonst hatte Gaius keinen Grund sie anzurühren. Er liebte sie nicht. Er begehrte sie noch nicht einmal und so machte er nur zu gern für den alten Mann Platz. Iunia überlebte die Geburt nicht und auch ihre Tochter starb wenige Stunden nach der Geburt. Tiberius hatte bereits seit drei Monaten eine neue Spielgefährtin und hatte Iunia bereits vergessen.
„Warum erzählst du mir das alles?", fragte Aurelia leise und zupfte nervös am Saum seiner Toga. Besorgt strich er ihr die Haare aus dem Gesicht und hob es sanft an.
„Ich kann dich nicht verlieren", gestand er leise und ihre Züge wurden weich. Ihre Lippen zogen sich zu einem feinen Lächeln.
„Ich habe Ozeane der Zeit überwunden, um dich zu finden", hauchte sie und all seine Ängste, Sorgen und dunklen Gedanken verpufften. Leidenschaftlich zog er sie an sich und ließ einfach los.

Glücklich musterte er seine wunderschöne Frau. Flatternd öffneten sich ihre Lider und voller Liebe strahlten ihre meerblauen Augen ihn an. Im gleichen Moment ertappte sich Gaius bei dem Gedanken, das Kind möge ihre Schönheit erben. Er oder sie würde damit jeder Frau oder jedem Mann im Imperium den Kopf verdrehen. Die ganze Welt würde ihm oder ihr zu Füßen liegen wie auch schon ihrer Mutter.
„Woran denkst du?", fragte Aurelia vorsichtig und Gaius meinte nur, dass er kaum erwarten konnte, das Geschlecht ihres Kindes zu erfahren. Aurelia schürzte die Lippen und stützte sich auf dem Ellbogen ab.
„Warum ist das so wichtig für dich?", wollte sie wissen und ihr Ton ließ ihn aufhorchen. Schnell erwiderte er, dass er einfach nur wissen wollte, welche Art von Verehrer er für die kommenden Jahre fern halten musste. Aurelia entspannte sich etwas.
„Das Geschlecht hängt eh von dir ab", meinte sie und lehnte sich gelassen zurück. Gaius schnaubte nur amüsiert. Im nächsten Moment bohrten sich ihre Augen kühl in seine und sie begann ihm einen Vortrag über Säuren sowie die Buchstaben X und Y zu halten. Am Anfang versuchte er noch zu folgen, doch ihm mangelte es einfach an Vorstellungskraft oder Hintergrundwissen, welches sie als wissenschaftlich bewiesen deklarierte. Als sie ihn fragte, ob er sie verstanden hätte, nickte er artig und wechselte schnell das Thema. Noch eine Weile fantasierten sie über die Zukunft ihres ungeborenen Kindes. Aurelias unbeschwertes Lachen hallte tief in seinem Herzen wieder und Gaius wurde bewusst, wie sehr er diese Frau liebte. Sie war wahrlich ein Geschenk der Götter und er würde alles in seiner Macht stehende tun, damit sie an der Zukunft ihres Kindes teilhaben würde.

Schon seit Stunden vergrub sich Gaius in den Dokumenten auf seinem Schreibtisch, doch er kam einfach nicht voran. Nichts würde er lieber tun als sich zu Aurelia zu gesellen und mit ihr in den Armen in tiefen Schlaf zu versinken. Aber er war das Oberhaupt dieses Staates. Für ihn gab es keinen freien Tag und wenn doch, dann musste er das Versäumte in der Nacht aufarbeiten.
In dieser Nacht war er jedoch nicht bei der Sache. Immer wieder ertappte er sich dabei lächelnd zu Aurelia hinüberzublicken. Seine Schwester hatte recht gehabt. Mit Aurelia über das Kind zu sprechen, hatte es Wirklichkeit werden lassen. Sie würden bald Eltern werden. Schon bald würde er einen Erben vorweisen können. Doch dieses Wissen barg eine neue Gefahr für Aurelia. Die kleine Verschwörung von Gemellus und Macro hatte Gaius vor Augen geführt, dass die von seinen Gegnern ausgehende Bedrohung für seine Familie ebenfalls real war. Die Nachricht von Aurelias Umstand musste zum rechten Augenblick im Volk verbreitet werden und während Gaius die Steuereinnahmen der letzten Monate durchging, wurde ihm immer deutlicher bewusst, dass sie gemeinsam alles schaffen würden. Nach dem Tod seines Vaters und dem Fall seiner Mutter hatte Gaius die Liebe gefürchtet. Wenn man jemanden über alles liebte und ihn verlor, verlor man auch einen Teil seiner Selbst. Gaius hatte vergessen, wie glücklich sein Leben mit seinen Eltern gewesen war und erst durch Aurelia fühlte er sich, als habe er zu sich selbst zurückgefunden. Sie machte ihn nicht nur glücklich, sie vervollständigte ihn.
„Warum schläfst du nicht?", riss ihn eine verschlafene Stimme aus seinen Gedanken und ertappt blickte er in Aurelias müdes Gesicht. Betreten legte er den Papyrus beiseite und schwieg. Aurelia verdrehte die Augen, ergriff das Blatt und kniff beim Lesen aufgrund des matten Lichtes der Öllampe die Augen müde zusammen. Kurz darauf legte sie den Papyrus langsam zurück an seinen Platz und strich Gaius sanft übers Haar.
„Lass uns das morgen früh zusammen machen", murmelte sie, drückte ihm einen leichten Kuss auf den Kopf und nahm seine Hand.
„Die Nacht ist zum Schlafen da und nicht zum Arbeiten", erklärte sie und zog sanft an seiner Hand. Hastig löschte er die Öllampe und ließ sich danach sofort bereitwillig von ihr mit sich ziehen. Müde tapste sie voran und kaum hatte sich ihr Kopf wieder auf ihr Kissen gelegt, schlief sie auch schon ein. Lächelnd legte Gaius seine Arme um sie und schloss die Augen. Morgen würde er ihr von seinen Ideen erzählen. Hatte nicht sogar jener große Cicero ab und an seine Terentia gebraucht, um weiterzukommen? Es war an der Zeit Rom gemeinsam zu verändern. Ihr Kind sollte nicht in der Stadt großwerden, die seine Familie beinahe zerstört hätte.

AureliaWo Geschichten leben. Entdecke jetzt