1. Kapitel

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Eingekuschelt in meiner dicken, schwarzen Jacke, saß ich ganz hinten im Bus und war der einzige Fahrgast zum Dorf meiner Oma. Dieser Ort, der sich Woodlin nannte, war wohl meilenweit von der Zivilisation entfernt, denn ich sah schon seit Stunden nur noch Bäume an mir vorbeiziehen.

Umgeben von diesem dunklem, dichtem Wald und den roten, verschmierten Sitzen, tat ich das einzig Richtige. Ich setzte mir meine Kopfhörer auf, schloss die Augen und ließ mich von der fabelhaften Musik einfach mitreißen.

Ich stellte mir schonmal vor, was wohl alles auf mich zukommen würde. Immerhin war ich schon 22 und hatte bis dahin weder einen Freund gehabt, noch eine feste Arbeitsstelle, oder sonst etwas, was andere  Erwachsene eben so hatten.

Dafür hatte ich meine Lili.

So durfte nur ich meine Oma nennen. Von allen anderen wurde sie Lisbeth genannt und darauf bestand sie auch. Sie war keine typische Oma, die man strickend auf einem alten Sessel erwarten würde. Sie war eher die Frau, die sich abends ein Glas Whisky genehmigte und dabei alte Filme anschaute. Eben einfach ein Freigeist, genau wie ich.

Meinen Opa kannte ich leider kaum und auch ihr Wohnort war mir vorher nicht bekannt, denn sie besuchten uns zu allen wichtigen Feiertagen und bestanden auch immer wieder darauf, dass nur sie zu uns kommen würden, niemals umgekehrt und während Lili mit mir spielte und mir ihre Lebensweisheiten erzählte, war mein Opa Willy eher der stillschweigende Stumme, der alles nur von weiter weg beobachtete. Das machte mir aber nichts aus. Ich war sehr tolerant und das schon als Kind.

Als ich meine Augen kurz wieder öffnete und damit verhindern wollte einzuschlafen, bemerkte ich, dass der Bus mitten im Wald stand und von dem pummeligen Fahrer jede Spur fehlte.

Ich war zwar kein Mensch, der schnell  panisch wurde, aber diese Situation übte ein Chaos der Gefühle auf mich aus, in dem Angst im Moment das größte war.

Schnell riss ich die Kopfhörer ab und verstaute sie im meinem schwarzen Rucksack, der übrigens auch mein einziges Gepäck war und schmiss ihn, ohne den Blick vom Fahrersitz zu nehmen, mir um die Schulter.

Draußen war es so dunkel, dass durch die großen Scheiben nur tiefes schwarz zu sehen war und mein verwirrt aussehendes Gesicht, dass sich in dem Glas spiegelte. Die dunkelblonden Haare hatte ich zu einem leichten Dutt zusammengebunden und die blauen Augen starrten mich erschrocken an.

Ohne mich weiter zu beachten, stand ich auf und lief nach vorne,  doch nicht ohne mich genau umzuschauen. Kurz kam mir der Gedanke, der Busfahrer könnte vorhaben mich zu missbrauchen, doch dazu hatte er sich die falsche Frau ausgesucht.

Ein gekonnter Griff nach hinten in den Rucksack und schon hatte ich mein Taschenmesser in der zitternden Hand. Mein Herz raste vor Adrenanlin und all das erinnerte mich an Szenen eines Horrorfilms, nur das das Realität war und keiner von meinen irren Träumen.

Schritt für Schritt lief ich weiter nach vorne und begann mich innerlich selbst zu ohrfeigen. Ich war normalerweise jemand, der bei Filmen immer laut schrie ...

"Nicht weitergehen! Wieso sind die immer so dumm?!"  ...

und ab diesem Augenblick gehörte ich selbst zu diesen naiven Menschen, aber was blieb mir auch anderes übrig.

Ein kalter Luftstrom zog plötzlich durch den Bus und jagte mir einen Schauer über den Rücken, der sich aber positiv auf mich auswirkte, denn durch ihn raste ich die letzten Meter durch den Bus und versuchte panisch mit allen Knöpfen die Tür wieder zu schließen, bis mich schlagartig eine Hand an der Schulter packte und ich dem Angreifer aus Schreck meinen Ellbogen in die Magengrube schlug.

"Bist du verrückt?!", schrie mich ein mir unbekannter Mann an und schnell wich ich einige Schritte zurück und hielt ihm meine zittrige Hand mit dem Messer darin entgegen.

"Irre genug dir weh zu tun, wenn du näher kommst!", schrie ich und versuchte das Beben in meiner Stimme so gut es ging zu unterdrücken.

"Chiara, oder? Du kommst wirklich nach Lili", lächelte er halbherzig und setzte sich dann keuchend auf den vordersten Sitz, um Platz zu nehmen und sich den Magen zu halten. Mit seinen grauen kurzen Haaren und den vielen Falten sah er wirklich nicht wie jemand aus, der mir etwas antun wollte, also steckte ich das Messer wieder in den Rucksack und ging vorsichtig einen Schritt auf den alten Mann zu.

"Du darfst sie Lili nennen?", fragte ich neugierig und setzte mich dabei ihm gegenüber auf den Sitz.
"Ohja und glaub mir, dass war nicht leicht", lachte er auf und hielt sich immernoch den Bauch. Es tat mir schon leid, ihm weh getan zu haben, aber er hätte ja sonst wer sein können. Ich war immerhin noch nie an diesem Ort, nichtmal in der Gegend und außer Wald sah ich sowieso nichts um mich herum. Hier hätte eine Massenmörder Familie wohnen können. Ich hätte es nicht gewusst.

"Ich bin gekommen, um dich abzuholen, also lass uns bitte gehen. Ich könnte jetzt ein gutes, kühles Bier vertragen."
Sein Lächeln verengte seine Augen und zeigte mir noch mehr Falten, doch trotzdem gab mir sein Blick ein warmes, beruhigendes Gefühl.

Als er sich dann langsam erhob, stand ich auch wieder auf und folgte ihm zögernd nach draußen in die eiskalte Dunkelheit. Normalerweise wäre ich nie mit einem fremden Mann einfach mitgegangen, oder hätte einen Bus mit laufendem Motor mitten auf der Straße stehengelassen, aber ich wollte nur noch schnell zu meiner Oma und raus aus dem gruseligen, dunklen Wald.

Kaum stand ich vor dem Bus hielt mir der Mann freundlich die Hand entgegen und musterte mich neugierig von oben bis unten.
"Du kannst mich Rudi nennen."

Kurz schaute ich ihm mit zusammengekniffenen Augen entgegen und dachte über diese absurde Situation nach, doch dann schüttelte ich erstmal alle Gedanken ab und nahm seine Hand höflich in meine.
"Chiara, wie du ja schon weißt und tut mir echt leid, dass mit dem Schlag", zeigte ich entschuldigend auf seinen Bauch, doch er winkte nur lachend ab.
"Da ist mir schon Schlimmeres passiert. Also, da vorne steht mein Auto."

Er drehte sich um und zeigte auf einen alten Ford, der nicht aussah, als würde er noch viele Kilometer schaffen. Doch Rudi schien stolz auf seine alte Karre zu sein, denn er schaute mich erwartungsvoll an, worauf ich ihm ein gespieltes Lächeln und einen Daumen hoch zeigte.

Ohne weiter Zeit zu verlieren und ohne mir Gedanken über den Busfahrer zu machen, stieg ich auf der Beifahrerseite ein und war froh, endlich wieder vorranzukommen, näher zu meiner Lili, auf die ich mich so wahnsinnig freute, dass ich zu abgelenkt war, um zu bemerken, dass ich die ganze Zeit beobachtet wurde.

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1081 Wörter

The human Mate - Seelen der Dunkelheit Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt