6. Störfaktor

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Störfaktor


Die Tür fiel ins Schloss. Marie atmete durch. Die kalte Luft strömte in ihre Nase und brannte leicht. Dennoch fand Marie es wunderbar. Sie schaute die Straße entlang. Autos unter einer dünnen Schneeschicht, schlecht gefegte Gehwege. Die Fahrbahn war geräumt und abgestreut. Vermutlich waren die Vorratshallen des städtischen Bauhofs noch voll und sie hatten testen wollen, wie viel Streusand man pro Quadratmeter verteilen konnte, ohne dass es in einer Beachparty endete.

Marie zog den Reißverschluss hoch und trat ans Geländer. Der Hausmeister hatte die Treppenstufen ordnungsgemäß geräumt, aber auf dem Handlauf lag der Schnee noch. Marie griff mit beiden Händen hinein, hielt das Weiß hoch, bis es anfing zu glitzern. Der Himmel war klar, und die Abendsonne, die irgendwo hinter den Häusern unterging, verteilte rötlich warmes Licht. Fasziniert betrachtete Marie den Schnee in ihren Händen, ohne auf die Kälte zu achten. Er war leicht und die einzelnen Flocken klebten noch nicht aneinander. Nach dieser Nacht würde das vermutlich anders sein. Marie formte langsam eine Kugel, die jedoch schlecht zusammenhielt und schließlich zerbröselte. Vorsichtig ließ Marie die Reste neben dem Geländer auf den Gartenboden fallen. Sie stieg die Stufen herab. Es gab einen kleinen Vorgarten und mit etwa fünf Metern Abstand vom Haus einen schmiedeeisernen Zaun.

Wenn sie jetzt einfach weiterginge, wäre sie im Nu auf der Straße und in der einen oder anderen Richtung verschwunden. Vielleicht würde ihr Nachbar denken, sie hätte ihn falsch verstanden? Nein... Wie war sie nur in diese Situation geraten? Gefrustet machte sie kleine Schritte im Schnee. Sie wollte ihn für sich haben, den ersten Schnee. Niemand sollte sie dabei stören, erst recht niemand Fremdes. Sie war kindisch. Erwachsene Leute machten wegen so etwas nicht so einen Aufstand.

Marie schaute an der Hausfassade nach oben. War da Licht im obersten Stockwerk? Es könnte auch die Abendsonne sein, die reflektierte. Ach verdammt, was war da denn nur eben passiert? Ein Gespräch, Marie. Du hast dich mit ihm unterhalten, großer Fehler. Manchmal war sie irgendwie unerwartet... eloquent. Na ja, sie war schließlich Autorin – oder wie auch immer man das nennen sollte, wenn man einen Bestseller geschrieben hatte. Bestseller. Alleine beim Gedanken an dieses Wort sträubten sich Maries Hirnstränge. Sie hatte keine Ahnung, ob es so etwas gab, aber sie war schließlich auch keine Neurologin. Für sie fühlte es sich jedenfalls so an. Wie eine Gitarrensaite, die von einer ungeübten Hand angeschlagen wurde, viel zu hart und mit einem unangenehm schrillen und zugleich leiernden Ton als Resultat.

Wie auch immer – sie hatte geredet. Immer wenn es passierte – wenn Marie sich in einem Gespräch überraschend gut schlug, erhielten die Leute einen völlig falschen Eindruck von ihr. Sie hielten sie dann manchmal für witzig, im schlimmsten Fall gar für extrovertiert. Aber das war sie nicht. Und irgendwann merkten die Leute das. Deswegen hatte Marie seit Jahren keine neuen, haltbaren Freundschaften geschlossen. Sie war stets auf Abstand gegangen und hatte so Enttäuschungen auf beiden Seiten vermieden.

Ihren Nachbarn würde sie auch schon noch wieder loswerden.

Herr, lass diesen Kelch an mir vorübergehen, dachte Marie. Vielleicht würde er nicht auftauchen. Vielleicht fand er keine lange Unterhose. Marie grinste. Herr, lass diesen Knilch an mir vorübergehen. Sie sang die Textzeile in ihrem Kopf mit.

„So. Ick wär dann soweit", berlinerte eine zu laute Stimme in Maries Gedanken hinein. Als sie zur Haustür schaute, knallte diese gerade zu. Ihr Nachbar rieb sich erwartungsvoll die Hände. Er wirkte übermotiviert. Und war definitiv unbehandschuht.

„Gut", seufzte Marie. Als sie sich ihres Tonfalls bewusst wurde, fügte sie mit einem Lächeln hinzu: „Na dann, auf!"

Felix sprang die Stufen herunter. „Jut. Also, wie is dit jetzt mit diesem Schnee-Fetisch?"

Strange attraction (Felix Lobrecht FF)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt