35. Signale

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Signale

Sie lag im Bett, totale Finsternis. Aber sie wusste, dass sie nicht alleine war. Sie drehte sich zur Seite und rutschte näher. Ein Arm legte sich um ihre Taille, zog sie zu sich. Sie schmiegte sich an ihn, spürte seine Wärme, nahm seinen Geruch wahr. Ihre Beine verflochten sich ineinander, er umschlang sie, ihre nackten Körper so nah aneinander, dass nichts mehr dazwischen passte. Ein Gefühl von absoluter Geborgenheit und gleichzeitig Erregung.

Marie hatte den Wecker auf acht Uhr gestellt. Pünktlich um fünf vor acht war sie wach gewesen, hatte geduscht, sich angezogen und war frühstücken gegangen. Sie hatte noch einmal ihre Kolleginnen angetroffen, die bereits heute abreisen würden. Marie war froh, dass sie noch einen Tag für sich hatte, einen Tag um etwas Neues zu sehen, ein kleiner Urlaub nach der manchmal doch ermüdenden Fortbildung. Gut, der Samstag war nicht der beste Tag, um etwas Kultur in Berlin zu erleben. Sie rechnete mit vielen Menschen. Aber sie würde die Hotspots wie die Museumsinsel außen vor lassen.

Um neun Uhr war sie wieder im Hotelzimmer. Sie hatte noch genügend Zeit, um schon mal ihren Trekking-Rucksack zu packen. Vielleicht würde es heute Abend spät werden. Marie verspürte ein angenehmes Flirren in der Magengegend. Sie überlegte, was sie für die Nacht und morgen noch brauchen würde. Auf einmal war sie sich unsicher, ob sie überhaupt das Richtige für den Tag anhatte. Es würde ein langer Tag werden. Erst raus Richtung Potsdam, dann zurück in die Stadt, dann was auch immer und wo auch immer mit Felix. Er hatte ihr nicht gesagt, was er plante – wenn er denn überhaupt was plante. Aber sie würde flexibel sein müssen, was die Zeit anging und sicher nicht noch mal ins Hotel zurückkehren, bevor sie ihn traf. Sie griff nach ihrem Smartphone, um die Wetter-App zu öffnen. Angenehme Temperaturen für Mai, etwas bedeckter Himmel, Regenwahrscheinlichkeit bei zwanzig Prozent. Okay, doch besser die dünne Regenjacke einpacken. Vielleicht auch die Sonnenbrille – einfach mal optimistisch sein. Ansonsten nur das Nötigste. Passte alles in ihre kleine Umhängetasche. Sie sah an sich herunter. Gut, dass sie ohnehin nur eine bescheidene Auswahl an Klamotten dabeigehabt hatte. So blieb ihr gar keine große Wahl. Jeans, Sneakers, Shirt, Cardigan, Jacke. Lagenlook für alle Wetterlagen. Praktisch war eh ihr Stil, wenn man das überhaupt so nennen konnte. Sie schaute in den Spiegel in der Schranktür. Wie eine Touristin sah sie nicht aus. Auch nicht wie jemand, der abends noch was vorhatte. Sie sah aus wie eine Oberstufenschülerin von vor zehn Jahren. Sie bemerkte, dass ihr Zopf schon begann sich aufzulösen. Na super. So also heute nicht. Messy bun, was soll's. Den konnte sie zumindest den ganzen Tag über immer wieder blind neu hochstecken, falls es nötig sein sollte. Sie nahm zwei halbsaubere Shirts aus dem Schrank und legte sie in den Trekking-Rucksack. Bis auf die Sachen, die sie morgen Früh anziehen wollte, war nun alles ausgeräumt. Sie musterte sich noch einmal. Gut. Sie war startklar.

Als sie mit der S-Bahn durch den Grunewald fuhr, fand Marie Berlin zum ersten Mal fast schon schön. Obwohl ihr klar war, dass die Gegend eben gerade nicht das Wesen einer Großstadt widerspiegelte. Es wirkte hier ländlich und mindestens eines der Bahnhofsgebäude auf der Strecke verdiente den Stempel „pittoresk". Das letzte Stück musste Marie mit dem Bus fahren und sie fand, dass Berlin im Grunde eben auch nichts anderes war als eine Ansammlung von städtischen Siedlungen und dorfähnlichen Vororten. Von einer Ecke zur anderen war man wahrscheinlich auch locker zwei Stunden unterwegs. Sie sah da keinen großen Unterschied zum Leben auf dem Land. Vielleicht waren hier die öffentlichen Verkehrsmittel einfach besser ausgebaut.

An ihrem ersten Ziel für heute angekommen, drehte Marie eine kleine Runde durch den Park. Ihr fiel ein alter Mann auf, der mit erstaunlich aufrechtem Gang vor dem Schloss auf und ab ging, die Hände hinter dem Rücken verschränkt. Sie musste bei seinem Anblick an einen einsamen König denken, der vielleicht eine schwierige Entscheidung zu treffen hatte. Sie setzte sich auf eine Bank, holte Notizbuch und Kuli hervor und schrieb auf, was ihr zu ihm einfiel. Gerade als sie damit fertig war, klopfte es in ihrer Tasche.

Strange attraction (Felix Lobrecht FF)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt