129. Besuch

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Besuch

Der Zug füllte sich zunehmend. Und er stand noch immer am Kölner Hauptbahnhof. Marie war froh, dass sie einen Sitzplatz reserviert hatte und als eine der ersten hatte einsteigen können, ohne ins Gedränge zu geraten. Ihr Gepäck war verstaut und sie saß ruhig auf ihrem Fensterplatz. Der Platz neben ihr war auch reserviert, von Köln bis nach Brüssel. Sie hoffte, dass sie keine unangenehme Person neben sich ertragen würde müssen. Kaum hatte sie es gedacht, kam eine ältere Dame den Gang entlang. Sie schaute sich suchend um, offenbar etwas überfordert, weil die Leute hinter ihr zu dicht aufschlossen. Erleichterung war in ihrem Blick zu erkennen, als sie die Nummer oben an der Gepäckablage entdeckt hatte. Etwas hilflos blieb sie stehen. Marie sah, dass sie einen recht schweren Koffer auf Rollen bei sich hatte. Gerade hatte sie sich aufgerichtet, um ihre Hilfe anzubieten, als der Mann, der auf der anderen Gangseite saß, aufstand und die Sache schnell und freundlich erledigte. Der Koffer passte gerade noch auf die Ablage. Die Frau bedankte sich, lächelte Marie dann mit einem Kopfnicken zu und setzte sich.

Gut. Das schien nicht so schwierig zu werden. Marie schaute auf den Bahnsteig. Die letzten Leute stiegen in den ICE. Laut der Anzeigentafel müsste der Zug jetzt losfahren. Als er es nach einigen Sekunden tat, überkam Marie ein Prickeln. Nicht ganz klar, ob es positiv oder negativ war. Die nächste spontane Zugfahrt. Langsam wurde das Routine. Na ja, noch nicht ganz. Sie war aufgeregt. Aber sie freute sich auch sehr auf Lucia. Dennoch war da dieses schwammige Gefühl in ihrer Magengegend. Einatmen, ausatmen. Alles gut. Sie bemerkte, dass die Frau neben ihr ein Buch aus ihrer schicken und sicher nicht ganz billigen Handtasche nahm. Die Kinder sind Könige, erkannte Marie, ohne den Titel gelesen zu haben. Die Farbgebung war auffällig und sie hatte das Buch selbst öfter in der Hand gehalten. Eine Leserin also. Das gefiel Marie. Es sprach für eine zurückhaltende, mit sich selbst beschäftigte Sitznachbarin in den nächsten zwei Stunden.

Marie selbst zögerte noch. Sie hatte das Buch von Judith Holofernes dabei, in dem ihr noch die letzten hundert Seiten fehlten. Und MacBest von Terry Pratchett, falls ihr nach was Lustigerem war. Aber gerade tendierte sie eher dazu, ihre Kopfhörer zu nutzen. Es war recht laut im Zug. Auch wenn das vielleicht besser werden würde, wenn alle erst einmal richtig angekommen waren auf ihren Sitzen. Sie könnte den Rest der Folge von letzter Woche hören. Sie war darüber eingeschlafen. Und dann vielleicht noch die neue, falls es dann immer noch zu laut war, um sich aufs Lesen zu konzentrieren. Guter Plan.


„Tommi, nächste Frage: In welcher Situation wärst du gerne mal ne Frau?"

Man konnte hören, dass Tommi die Luft durch geblähte Backen ausstieß. Vielleicht unterdrückte er aber auch einen Rülpser. „Gesellschaftlich betrachtet eine extrem schwierige Frage, ein Minenfeld gewissermaßen. Felix, uns werden die Feministinnen so aufs Dach steigen! Und nicht nur die, wenn ich nur daran...nein, also das kann man sich ja nicht aussuchen und... da möchte ich jetzt wirklich nicht einsteigen. Wespennest, es ist ein Wespennest, Felix!"

„Tommi, darum geht's hier doch nicht. Mach doch nicht so'n Fass auf! Geht nur um Spaß hier, nicht um gesellschaftliche Relevanz. Und Feministinnen hassen uns so oder so."

„Ja, okay... Boah, ist echt schwierig, ja? Ist halt schon, sorry Leute, echt geil ein Mann zu sein. Aber... also ich bin ja ein neugieriger Charakter. Und ich glaube, auch so als Autor...ja, Felix grinst schon wieder, aber ich hab immer noch die Hoffnung, dass das was wird... also, ich als Autor hätte schon gerne mal Einsichten, die ich sonst nicht habe. Vermutlich würde ich daher einfach mal gerne erleben, wie Frauen so untereinander sind, wenn kein Mann in der Nähe ist. Ich glaube ja auch, dass Frauenfreundschaften ganz anders funktionieren als Männerfreundschaften. Ich glaube, ich würde daher vielleicht einfach mal gerne einen Tag als Frau unter Frauen sein. Mich da einleben und einfühlen."

Strange attraction (Felix Lobrecht FF)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt