62. Seiltanz

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Seiltanz


Sie sah, dass er noch immer starrte und hielt es nicht aus. Heute nicht eine Sekunde. Dieser besorgte Ausdruck. Marie wollte das nicht. Sie wollte kein Krankheitsfall für ihn sein. Wenn er bis Morgen oder Übermorgen gewartet hätte, wäre sie schon wieder stabil gewesen. Dann hätte er nichts mehr gemerkt und sie hätte ihm nichts gesagt. Sie verschränkte die Arme vor der Brust. Sag was, Marie. „Willst du was trinken?"

„Ja, okay." Felix nickte und wandte sich ab, um sich die Schuhe auszuziehen.

Marie ging in die Küche, froh, eine Aufgabe zu haben. Sie stellte zögernd ein gefülltes Glas auf den Tisch, nahm ihr eigenes und lehnte sich dem Raum zugewandt an die Fensterbank, als er ihr nachkam.

„Lass mal ins Wohnzimmer gehen", sagte er, und es klang weniger wie ein Vorschlag als wie ein sanfter Befehl.

Sie folgte ihm planlos, vollends damit beschäftigt, die beängstigenden Gedanken in ihrem Kopf zu stoppen. Im Wohnzimmer setzte er sich auf die Couch und sah sie erwartungsvoll an. Marie trank einen Schluck, stellte das Glas ab und setzte sich zu ihm, mehr Abstand lassend als es in letzter Zeit bei ihnen üblich gewesen war. Sie schwiegen beide. Lange. Wann immer Maries Blick seinen traf, wandte sie ihn wieder ab. Nicht hektisch, aber dennoch unmittelbar. Trotzdem wurde sie langsam etwas ruhiger. Einatmen, ausatmen. Sie wollte nicht reden. Aber sie wollte auch nicht weiter schweigen, denn dann wurden die Gedanken zu laut. Sie schaffte es kurz, Felix anzusehen. „Was hast du heute in der Stadt gemacht?", fragte sie leise.

Er lächelte einseitig. „War bei 1Live. Und Julian brauchte mich als Styleberater. Und dann haben Tommi und ich neue Fotos gemacht. Marvin, mein Fotograf, wohnt hier in Köln."

„Du hast nen Fotografen?"

„Lieblingsfotograf. Kenn den schon lange."

Marie nickte. „Ach so." Dann war wieder Stille.

Felix räusperte sich, und als Marie ihn ansah, sagte er schließlich mit in Falten gelegter Stirn: „Weißt du eigentlich, dass ich auch Panikattacken hab?"

Sie schüttelte langsam den Kopf. „Nein?"

„Is aber so. Ich weiß, wie beschissen das ist. Dass man Angst davor hat und dann passiert es erst recht. Es ist echt ein mieses Gefühl. Macht mich jedes Mal komplett fertig."

Marie sah ihn jetzt aufmerksam an. „Deswegen wusstest du damals, was zu tun war." Sie dachte an die Attacke, die sie in seiner Wohnung gehabt hatte. Unangenehmer hätte es nicht sein können. Aber er hatte ihr gut geholfen. „Warum hast du nichts gesagt?"

Er zuckte mit den Schultern. „Kennst du doch, oder? Ist nichts, worüber man gerne redet. Ist nichts, was einen besonders stark erscheinen lässt."

„Mhm."

„Ich hab die Attacken oft, wenn gerade viel Stress ist. Oder das Gegenteil davon. Wenn irgendwas nicht so richtig läuft, wenn ich denke, dass meine Karriere eh bald vorbei ist. Manchmal komm ich nach ner Tour nach Hause und fahr dann runter von Hundert auf Null. Fall in ein Loch. Depressiver Schub. Und dann hatte ich auch schon öfter so ne Attacke."

Marie sah ihn an. Sie hätte ihm irgendwas Beruhigendes, Beschwichtigendes, Verständnisvolles sagen können. Aber sie wusste, dass das vermutlich nichts brachte. Bei so etwas konnte man meist nichts mit guten Worten ausrichten. Und meist auch nichts mit Objektivität und Fakten. „Und was machst du dagegen?"

„Na, die Atemtechnik etwa. Aber ich weiß auch, dass das nur bedingt hilft. Wenn man sich zu sehr reingesteigert hat...und meistens kommt das ja so überraschend..."

Strange attraction (Felix Lobrecht FF)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt