29. Ferndiagnose

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Ferndiagnose

Im Auto schaute Marie erneut auf ihre Uhr. Nicht, weil sie fürchtete, zu spät zu kommen, sondern weil sie es schade fand, dass die Zeit so schnell vorbeiging. Fast so als wären ihre Wünsche erhört worden, zeichnete sich hinter der nächsten Kurve ein Stau ab.

„Yo, dit is Berlin", sagte Felix und legte die Hände lässig auf seine Oberschenkel, als der Wagen zum Stillstand gekommen war.

„Na ja", wandte Marie ein. „Das ist jetzt nicht wirklich ein Alleinstellungsmerkmal. Nennt sich Feierabendverkehr. Kennste wahrscheinlich nicht, weil du keiner geregelten Arbeit nachgehst."

„Ach so ist das. Verstehe." Er nickte. „Na ja, Feierabend mag ich trotzdem. Nur später eben." Er fuhr zwei Autolängen weiter und musste erneut halten. „Haste dir eigentlich mal das Video angeguckt, das ich dir geschickt hatte? Von der Open-Mic-Sache?"

„Mhm." Marie sah ihn an. Ihre Blicke trafen sich kurz, ehe Felix wieder nach vorne schauen musste. „Sah irgendwie... intim aus."

„Boah Scheiße!" Er hielt an und sah sie mit aufgerissenen Augen an. „Hab ich dir aus Versehen den Zugang zu meiner Onlyfans-Site geschickt?" Er grinste breit.

„Ähm..." Marie musterte ihn mit gerunzelter Stirn. „Only was?"

„Okay, Joke verkackt." Er fuhr ein Stück. „Bei Onlyfans kann man für Abonnenten exklusive Inhalte hochladen. Na ja, kurz gesagt: Meistens sind das wohl nackte Tatsachen."

„Mhm", machte Marie. „Nein... das war es definitiv nicht. Und ich musste auch nichts bezahlen, um es mir anzusehen."

„Nur um das noch mal klarzustellen." Felix hob die rechte Hand. „Ich bin nich bei Onlyfans."

„Hätte ich nach deiner Schilderung jetzt auch nicht vermutet."

„Gut."

„Ja." Marie presste die Lippen aufeinander. Wieso kamen zwischen ihnen nur immer wieder solche Themen auf? Oder kam es ihr nur so vor? Egal. „Also", begann sie. „Ich meinte auch nur, dass es eben recht überschaubar aussah. Und du hattest die Leute trotzdem im Griff. Ich fand's auch lustig."

„Aber?", hakte er nach. Er schaute sie kurz an, ehe er sich wieder auf die Straße konzentrierte. Der Stau löste sich auf.

„Nichts aber." Sie erinnerte sich daran, warum er ihr das Video ursprünglich geschickt hatte – damit sie abschätzen konnte, ob sie es schaffen würde, zu so einer Veranstaltung zu gehen, trotz ihrer Angst vor Menschenmassen und allem, was damit einherging.

„Hab am Donnerstag vor, zu nem Open Mic zu gehen. Andere Location als in dem Video. Aber...meinst du, du...?"

Bingo. Marie spürte, wie ihr das Atmen für einen Moment schwerfiel. Sie hatte sich selbst die Frage gestellt, ob sie es schaffen könnte. Aber sie hatte die Beantwortung vor sich hergeschoben. Jetzt war es wohl an der Zeit. „Hm", machte sie. „Ich denke, ich würde gerne hingehen." Als sie es ausgesprochen hatte, fühlte sie erneut eine kleine Unregelmäßigkeit in ihrem Brustkorb.

„Fängt so um 19:30 an. Ich bin aber eher so ne Stunde später dran. Ist Richtung Prenzlauer Berg. Wäre also gar nicht so weit für dich. Könnte dich auch abholen und mitnehmen."

„Ich habe den Plan für die Fortbildung nicht so genau im Kopf. Irgendwann gibt's auch gegen Abend kleine Exkursionen in Beispielbibliotheken in der Stadt. Und... ich denke, ich komme da schon alleine hin." Sie sah ihn an. „Hab ein BVG-Ticket für die Woche."

Er schaute kurz zu ihr und nickte. „Jut. Dann schicke ich dir noch die genaue Adresse und den Namen der nächstgelegenen Haltestelle dort."

„Wow, was für ein Service. Aber das würde ich auch noch herausbekommen."

Strange attraction (Felix Lobrecht FF)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt