132. Verliebt

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Verliebt

Sorry, Lux, ich kann nicht mitkommen, weil... ich hab nichts anzuziehen. Nein. Reiß dich zusammen, Marie! Es geht hier nicht um dich. Sie zerrte ein schwarzes Shirt aus ihrem Rucksack und zog es über. Mit Jeans und Sneakern war das doch angemessen unspektakulär für eine WG-Party, zu der man weder eingeladen war, noch kommen wollte. Durchhalten, zumindest ein wenig, das war ihr einziges Ziel für heute. Sie verließ das Gästezimmer. In der Küche hörte sie es rumpeln, also ging sie dorthin. Lucia stand vor dem geöffneten Kühlschrank. Als Marie näher kam, erkannte sie, dass darin einige Flaschen und Behälter umgefallen waren. „Was machst du?", fragte sie.

„Was ich am besten kann: Chaos", antwortete Lucia, stellte eine Milchpackung in die Tür, schob ein paar Dosen im untersten Fach ganz nach hinten und hielt dann triumphierend etwas hoch. „Beruhigungsmaßnahme. Willst du auch?"

„Das sieht mir mehr nach Pudding aus, aber klar."

Lucia ließ die Kühlschranktür scheppernd zufallen, brach die Minibecher an der Sollbruchstelle auseinander und reichte Marie einen der beiden.

Marie öffnete die Geschirrschublade und holte zwei kleine Löffel hervor. „Und? Fertig?"

„Mit den Nerven? Ja." Lucia zog den Deckel ab und tauchte den Löffel ein.

Marie musste lachen. „Verkehrte Welt, oder? Wir gehen zu ner Party und ich muss dich beruhigen?"

„Ja. Just det. Meinst du denn, es geht heute bei dir?"

„Ganz ehrlich? Bin nicht sicher, ob ich die geeignete Begleitung für heute bin. So, um dir beizustehen. Aber ich versuch's."

„Hm." Lucia leckte den Löffel ab. „Ich hab mich ja auch irgendwie nur so gedrückt. Also... ich schaff das schon. Auch mit Paul. Und ich pass auch auf dich auf, ja?"

Marie schüttelte den Kopf. „Ich hab ja den Ersatzschlüssel. Wenn es mir zu viel wird, geh ich. Das tut mir dann leid, aber..."

„Ne, det är bra", versicherte Lucia ihr. „Ich weiß ja, wie das bei dir ist. Find das schon echt gut, dass du's versuchst."

„Mhm. Aber ganz ehrlich: Kümmer dich nicht um mich. Ich bin einfach... nur stille Beobachterin, ja? Und ich sorg dafür, dass du nicht abhaust, wenn dieser Paul auftaucht." Marie aß einen Löffel Schokopudding. Er war lecker, aber etwas zu kalt.

„Okej", sagte Lucia, während sie ihren Becher auskratzte. „Dann sollten wir gleich mal los."


„Ah! Lucie!", rief die junge Frau aus, die ihnen die Tür öffnete. Sie war Maries Einschätzung nach Mitte dreißig, hatte, dunkles, volles, lockiges Haar und eine sehr hohe Stimme. „Ça va?"

„Ça va bien, et tu?" Lucia machte einen Schritt nach vorne und umarmte die Fremde. Wangenküsschen wurden ausgetauscht. Marie musste sich ermahnen, ihre Mimik zu kontrollieren.

„Ça va bien, oui. Est-ce... "

„C'est Marie", erklärte Lucia schnell und Marie kam es beinahe so vor, als stellte sie sich absichtlich zwischen die Frau und sie, um jede Gelegenheit für eine allzu herzliche Begrüßung zu vermeiden. „Mon amie d'Allemagne."

„Ah."

Marie lächelte, schaffte ein „Salut!" und trat hinter Lucia ein, nachdem die Fremde sie aufgefordert hatte.

„Ach ja, richtig, das ist Chloé", stellte Lucia ihr die Frau vor.

„Ah! Lucie! Marie!", kam es von der anderen Seite des Flurs.

Marie fragte sich unwillkürlich, ob es an der französischen Sprache lag, dass alle immer so erfreut und verwundert klangen. Alix, eine weitere Mitbewohnerin der WG, hatte sie heute Mittag vor der Haustür kennengelernt. Sie war Lucia geradezu angesprungen, als sie sie entdeckt hatte. So wie die drei gerade miteinander redeten war es offensichtlich, dass Lucia hier bereits gute Freundinnen gefunden hatte. Das war typisch. Und es hatte Marie immer beruhigt, weil es bedeutete, dass Lucia überall schnell Anschluss fand. Aber Marie musste auch vor sich selbst zugeben, dass es sie ein wenig traf, wenn ihre einzige wirkliche Freundin einen ganzen Haufen anderer Freundinnen hatte. Eifersucht, Marie, das nennt sich Eifersucht. Oder es ist Neid, weil du selbst keine Freunde hast. Stopp! Nicht jetzt. Sie versuchte der Unterhaltung zu folgen und höflich zu lächeln, wenn es angebracht war. Mittlerweile war es ein Sprachgemisch aus Französisch, Englisch und Deutsch. Marie verspürte den Drang, ihre Schuhe auszuziehen. Es juckte regelrecht in ihren Füßen. Aber sie würde sich zusammenreißen. Sie hatte keine Hausschuhe dabei. Das wäre ohnehin unpassend gewesen. Und vielleicht auch gar nicht klug. Wer wusste schon, ob sie nicht schnell würde fliehen müssen? Und wer wusste, was hier später alles auf dem Boden kleben würde? Oder schon klebte? Schmutz und Getränkereste und Heroinspritzen. Nein. Das hier war nicht der Kotti. Schlecht, ganz schlecht. Jetzt nicht an Felix denken. Stopp! Vorletzte Nacht... Nein! Ausblenden, Marie, sofort! Konzentrier dich auf die Heroinspritzen. Ja, gut. Sie war sehr lange auf keiner Party gewesen. Was wusste sie schon, was da mittlerweile Trend war? Früher hatte es Jelly Shots gegeben. Manchmal sogar in Spritzen. Lecker, wirklich. Und heute? Keine Ahnung, echt nicht. Aber gut, es war doch recht unwahrscheinlich, dass Heroin mittlerweile zum Standard gehörte. Konnte man Heroin trinken?

Strange attraction (Felix Lobrecht FF)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt