26. Intermezzo

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Intermezzo


Mit einem Fingernagel testete Marie vorsichtig den Anstrich. Ja, er schien gut getrocknet zu sein. Sie trat an den Tisch und nahm eines der ausgedruckten Fotos in die Hand.

Cocaine and drinkin' with your friends
You live in the dark, boy, I cannot pretend...

Marie hörte kaum auf die Musik und nutzte das Radio lediglich als leise Geräuschkulisse,  die verhinderte, dass ihre Gedanken in die Stille abschweiften. Sie öffnete das Glas mit dem Kleister und rührte ihn noch einmal um. Sie nahm das Foto, das im Zentrum sein sollte und hielt es vor sich, so dass sie sich vorstellen konnte, wo sie es genau an der Wand anbringen wollte. Dann drehte sie sich wieder zum Tisch um. Ihr Blick fiel auf die braune, flache Kiste, die sie zwar hervorgeholt, aber bisher nicht geöffnet hatte. Sie wusste, was darin war: weitere Fotos. Fotos der Kategorie, für die sie noch nicht bereit war. Aber irgendwann würde sie es sein.

Marie nahm das Kleisterglas und stellte es vor die Fußleiste auf eine ausgebreitete Zeitung. Dann nahm sie etwas Kleber mit dem breiten Pinsel auf und strich über die Wand. Sie legte das Foto darauf und strich darüber. Der Anfang war gemacht. Der Ausdruck wurde leicht durchscheinend, aber das war genau das, was sie wollte.

Ein Klopfen. Marie legte den Pinsel ab. Sie hatte das Smartphone absichtlich nicht stummgeschaltet. Mit ihrer Mutter hatte sie alles heute Morgen geklärt. Sie würde am Wochenende nicht nach Hause fahren müssen. Das kleine Problem mit dem Brief vom Finanzamt hatten sie auch telefonisch bereinigen können. So würde Marie Zeit haben, an ihrem Buch zu schreiben, nachdem sie heute schon ungewöhnlicherweise ihre Pläne über den Haufen geworfen hatte. Marie entsperrte ihr Handy und öffnete WhatsApp. Ja, da waren noch einige ungelesene Nachrichten von ihrem Ex. Die erste hatte sie schon gestern Nacht gesehen, aber ignoriert. Und dann war da eine Nachricht von Herrn Lobrecht, die offenbar eben gerade angekommen war. Marie seufzte und beschloss, es hinter sich zu bringen.

Felix: Bist du morgen nicht in Köln? Bin gerade im Hotel angekommen.
Felix: Ich bin heute Morgen an der Uni und heute Abend dann auch. Aber wir könnten uns zum Mittagessen treffen, wenn es geht.

Marie schaute auf die Uhr. Dreizehn Uhr vorbei. Schade aber auch.

Felix: Schade.

Ja, schade, du Idiot.

Marie: Ich möchte kein Treffen. Ich denke, zwischen uns ist alles geklärt. Ich wünsche dir alles Gute.

Das tat sie wirklich. Entschlossen klickte sie auf das Profil. Das Foto hatte sie schon lange gelöscht, aber nun brauchte es einen neuen Namen. Prof. Dr. F. S. Das sollte reichen. Es entsprach der Wahrheit und war angemessen unpersönlich. Dennoch würde sie immer direkt wissen, wer sich dahinter verbarg. Sie schloss das Profil und wechselte den Chat.

Herr Lobrecht: Tach. Wollte nur mal hören, wie es dir geht. Nicht, dass du dich unter dem Tisch verkrochen hast oder so. Hätte auch nen Kapuzenpulli und ne riesige Sonnenbrille anzubieten, falls du doch noch raus musst und inkognito bleiben willst.

Sie musste schmunzeln.

Marie: Alles in Ordnung. Bewege mich frei in der Wohnung und habe genügend Vorräte, um 24h drin zu bleiben. Aber danke für das Angebot.

Sie öffnete das Profil und änderte seinen Namen. Das war wohl inzwischen angemessen. Kaum hatte sie es getan, kam schon die nächste Nachricht.

Felix Lobrecht: Soll ich runterkommen?

Kleine Turbulenzen in der Magengegend. Aber Marie blieb gelassen. Der gestrige Abend hatte etwas seltsam geendet, aber Marie war froh, dass es so gekommen war. Diese intensiven Gefühle auf der Dachterrasse hatten sie verwirrt. Einen Moment hatte sie wirklich gedacht, sie würden... Marie schüttelte den Kopf. Sie war schlecht im Flirten, schlecht im Lesen der Signale. Als Teenager hatte das alles noch zumindest einigermaßen funktioniert. Aber in den letzten Jahren hatte sie diese Fertigkeiten verlernt. Ihr Ex hatte sie dahingehend durcheinandergebracht. Es hatte bei ihm einfach keinerlei Signale gegeben, kaum einmal sichtbare Gefühlsregungen – außer bei und nach dem Sex vielleicht. Alles hatte sie sich irgendwie zusammenreimen müssen und gleichzeitig war er immer davon ausgegangen, dass sie wusste, was gerade in ihm vorging. Sex mit ihm war immer überraschend gekommen, weil sie davor nie erkannt hatte, dass er überhaupt auch nur Interesse an ihr hatte oder sie gerade attraktiv fand. Also hatte sie gestern Abend einfach zu viel in Felix' Nettigkeit und die schlichte Nähe hineininterpretiert. Sie war so viel Wärme und Aufmerksamkeit nicht gewohnt. Als sie sich zu ihm umgedreht hatte, nachdem sie ernsthaft über Sex mit ihm nachgedacht hatte, war es ihr schlagartig klar geworden. Gut, vielleicht hatte sie auch ein kurzer Flashback davon abgehalten, weiter in Flirtlaune zu sein. Sie hatte an die Panikattacke gedacht, als sie sein Gesicht nicht hatte sehen können. Klar, es war dunkel gewesen auf der Dachterrasse, das Licht hinter ihm hatte es ihr erschwert, irgendwelche Gesichtszüge zu erkennen. Aber genau so war es ja zwei Stunden zuvor gewesen, während ihrer Attacke. Sie war sich der Absurdität dieser Situation bewusst geworden. Felix hatte sich einfach um sie gekümmert, sie umsorgt und sie wirklich erstaunlich gut aus diesem düsteren Loch herausgeführt. Vermutlich war er ziemlich überrumpelt gewesen von dem Vorfall und hatte sich danach verantwortlich dafür gefühlt, dass es ihr bald besser ging. Und das hatte er ja auch geschafft. Er war wirklich großartig gewesen. Vielleicht hatte er mit ihr geflirtet, damit sie sich besser fühlte. Vielleicht hatte sie auch mit ihm geflirtet. Aber sie sollte das nicht überbewerten. Sie hatte sich am Abend dann rasch verabschiedet. Die Begründung, dass sie sehr müde sei, war ja noch nicht mal gelogen gewesen.

Strange attraction (Felix Lobrecht FF)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt