Strange attraction (Felix Lobrecht FF)

135. Impuls

Impuls

I hate the world today
You're so good to me
I know but I can't change...

Marie sang laut mit, während sie den Inhalt ihrer Schreibtischschubladen neu sortierte. Heute war so ein Tag dafür. Ein guter. Sie spitzte zwei Bleistifte an und legte sie dann zurück in eine kleine Metallbox, die sie zuvor gesäubert hatte. Das Lied wurde kurz leiser, eine eingehende Nachricht.

Lucia: Hej! Meld mich aus der Mittagspause. Zu spät, ich weiß. War es aber gestern auch, also, zu spät. Hab mich mit Paul total verquatscht. Der ist so ein Lieber, echt!
Marie: Freut mich! Können heute Abend reden, wenn du magst.

Sie stand still und las die Zeilen noch einmal durch. Ein Lieber. Eigentlich klang das nicht so, als wäre Paul der richtige Partner für Lucia. Jedenfalls war das nicht das, was sie bisher an Männern geschätzt hatte: lieb sein. Aber andererseits hatte Marie Lucia auch noch nie so erlebt wie mit Paul. Vielleicht war es anders, aber trotzdem gut. Oder gerade deswegen gut. Nein, sie wollte sich jetzt nicht wieder an solchen Themen abarbeiten. Sie startete das Lied neu und fuhr mit ihrer Arbeit fort.

I'm a bitch, I'm a lover,
I'm a child, I'm a mother,
I'm a sinner, I'm a saint...

Der Text war simpel und sie kannte ihn auswendig. Das war gut. Sie wollte ihre Stimme wieder trainieren. Und es machte Spaß. Aber als das Lied ausklang gingen ihre Gedanken wieder zurück zu Lucia. Das verlängerte Wochenende war schön gewesen. Und Marie fragte sich, warum es ihr vorher so unmöglich erschienen war, einfach mal zu ihrer Freundin zu reisen. Ja, es hatte nicht alles perfekt geklappt. Aber es war dennoch gut gewesen. Sie hatten gequatscht und gelacht und zusammen gesungen und einfach rumgealbert, wie immer. Wie früher. Nein, nicht wie früher. Aber das war okay, sie entwickelten sich ja weiter. Und doch waren sie bei den wichtigen Dingen nach wie vor einer Meinung. Zum Beispiel waren sie sich einig gewesen, dass diese WG-Party übel gewesen war. Lucia hatte gesagt, dass selbst Chloé das noch am Abend eingesehen hatte. Die hatte die Party geplant gehabt, um ein paar Leute zusammenzubringen. Sie hatte irgendeinen Plan damit verfolgt, berufliche und private Kontakte vermischt. Wie auch immer. Selbst trotz der kleinen Panikattacke war Marie über das Wochenende im Großen und Ganzen froh gewesen. Wegen Lucia. Und weil sie alles heil überstanden hatte. Und Felix... ja, das war auch gut gewesen. Alles gut. Die letzten drei Tage waren dann sogar auf der Arbeit gut gewesen. Endlich Zeit, um sich um das Veranstaltungsprogramm fürs nächste Jahr zu kümmern. Marie hatte sich in einem für sie wichtigen Punkt durchsetzen, beziehungsweise die Kolleginnen überzeugen können. Sie mussten dringend mehr für Jugendliche anbieten. Ja, die kamen nicht oft in die Bücherei. Aber gerade dann musste man sie eben da abholen, wo sie waren. Nein. Keine Gedanken über die Arbeit jetzt.

Marie legte alles zurück in die oberste Schublade und schloss diese. Dann zog sie die unterste auf. Der Karton. Sie nahm ihn heraus, stellte ihn auf den Schreibtisch, öffnete ihn. Einatmen, ausatmen. Im Hintergrund sangen They might be giants über ein Vogelhaus. Marie hatte den Text nie verstanden. Sie nahm den Stapel Fotos heraus und ignorierte gekonnt den Briefumschlag ganz unten drin. Ohne richtig hinzusehen blätterte sie die Bilder durch. Irgendwann stellte sich ihr Blick klar. Philipp an seinem Auto, dem alten roten Opel Kadett, den er nie gefahren hatte, offiziell jedenfalls nicht. Sein ganzer Stolz. Er stand in der geöffneten Fahrertür, lachend über etwas, an das Marie sich nicht mehr erinnern konnte, obwohl sie dabei gewesen war. Sie saß im Schneidersitz auf der Motorhaube, schaute ihren Bruder an. Bewundernd, ja. Und vielleicht auch stolz. Vielleicht hatte sie ja etwas gesagt, das ihn zum Lachen gebracht hatte.

Blue canary in the outlet by the light switch
Who watches over you
Make a little birdhouse in your soul
Not to put too fine a point on it
Say I'm the only bee in your bonnet
Make a little birdhouse in your soul...