52. Wie früher

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Wie früher

Nach dem gemeinsamen Abendessen liefen Lucia und Marie zum See. Neben der rot gestrichenen Hütte führte ein schmaler Pfad hinunter bis zu einem kleinen Steg, an dem ein Boot festgemacht war, das allerdings nicht mehr seetüchtig aussah.

„Und? Sollen wir gleich baden gehen?", fragte Lucia lachend.

„Hm", machte Marie skeptisch. „Erst mal testen, wie das Wasser ist." Sie zog sich Schuhe und Socken aus, krempelte die Beine ihrer Jeans hoch und trat ans Ufer. Sie fühlte mit einer Hand vor. Warm war es nicht gerade. An ihren Füßen war es auch nicht besser. „Ich denke mal, das verschieben wir auf morgen. Ist echt noch ziemlich kalt."

„Haben ja eh die Badesachen im Haus gelassen", sagte Lucia.

„Ich dachte schon, das mit dem Nacktbaden sei dein Ernst. Weiß ja nicht, was du so für seltsame Angewohnheiten in Brasilien entwickelt hast."

„Jedenfalls bin ich wärmere Wassertemperaturen gewohnt. Mormor meinte ja schon, dass es in den letzten Wochen nicht warm genug war. Aber jetzt soll es richtig schön werden."

„Mhm." Marie ging barfuß zum Steg und setzte sich hin. „Ist jetzt schon schön." Sie schaute über den See.

Lucia ging den Steg entlang zu dem kleinen Boot und stieß es mit dem Fuß an. „Hier müsste sich auch mal jemand kümmern."

„Können ja was machen. Sind ja die ganze Woche über hier", schlug Marie vor.

„Weiß nicht." Lucia seufzte und ging zu Marie, um sich in einer fließenden Bewegung neben ihr auf dem Steg niederzulassen. „Also Boote reparieren kann ich nicht."

„Ne, aber uns fällt schon was anderes ein."

„Ich frag Oma einfach morgen mal."

Marie nickte. „Du hast dir Sorgen um sie gemacht, hm? Aber so wie es aussieht, kommt sie doch ganz gut klar."

„Ja, da bin ich auch echt erleichtert. Meine Tante hat vermutlich mal wieder alles unnötig dramatisiert."

„Tanten", sagte Marie vielsagend und verdrehte die Augen.

Sie schauten eine ganze Weile über den See, nebeneinandersitzend, leicht zurückgelehnt, sich mit den Armen auf den Bohlen abstützend. Es war ruhig, bis auf das gelegentliche Zwitschern einiger Vögel und dem steten leisen Zirpen von Grillen.

„Wise men say only fools rush in
But I can't help falling in love with you...
"

Marie lächelte, als Lucia anfing zu singen. Dann setzte sie mit ein und übernahm die Altstimme. Es war erstaunlich harmonisch, auch wenn sie lange nicht zusammen gesungen hatten. Früher, als sie im Chor gewesen waren und fast jede freie Minute miteinander verbracht hatten, waren sie ein eingespieltes Team gewesen. Als sie trotz einiger Textunsicherheiten das Lied gut beendet hatten, schauten sie sich an und lachten.

„Okay." Lucia grinste. „Geht noch. Siehst du? Wie früher."

„Mhm. Tut echt gut."

„Du wolltest dir doch immer mal wieder nen Chor suchen. Und jetzt sag nicht, dass es in Köln keinen gibt. Bei den ganzen Kirchen muss es genügend geben."

Marie seufzte. „Ja, ich weiß. Hab mich nicht überwinden können. Und außerdem... also die Proben hätte ich ja vielleicht noch irgendwie geschafft. Aber dann irgendwo auf ner Bühne stehen? Und sei's auch nur in nem Gottesdienst? Ne."

„Das wird schon wieder", sagte Lucia.

Marie atmete tief durch. Sie wusste, dass Lucia es nur gut und motivierend meinte. „Vorerst probe ich noch allein. Singen geht ja auch solo. Und... dancing with myself habe ich auch perfektioniert. Ne Zeit lang war mir zwar gar nicht danach, aber... doch, es kommt langsam wieder." Sie musste daran denken, wie sie für Felix getanzt hatte. Erst unfreiwillig, weil er sie heimlich beobachtet hatte, und dann einmal so, aus Spaß. Seitdem hatte sie wieder mehr getanzt. Sie wusste gar nicht, warum sie mal damit aufgehört hatte. Ach so, ja, doch. Weil ihr Ex es albern gefunden hatte. Er hatte es nicht so formuliert, aber seine Blicke hatten ihr genügt. Sie hatte nicht mehr getanzt, wenn er da gewesen oder sie bei ihm gewesen war. Und dann hatten ihre Ängste sie gehindert. Wenn man versuchte, unsichtbar zu sein und nichts mehr zu fühlen, war Singen und Tanzen nicht unbedingt hilfreich.

Strange attraction (Felix Lobrecht FF)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt