95. Unterwegs

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Unterwegs

Marie ließ das Fahrrad ausrollen und kam punktgenau neben Flo an, der vor ihr geradelt war. „Da geht einem doch das Herz auf, oder?" Er streckte beide Arme aus und schaute mit einer demonstrativen Kopfbewegung im Halbkreis in die Auenlandschaft.

„Ziemlich kranke Formulierung, wenn man so drüber nachdenkt. Aber ja, ist echt schön."

„Und quasi vor der Haustür."

„Mhm." Marie nickte. Sie hatten die Route an der Sieg entlang ausgesucht, weil sie parallel zu einer Bahnstrecke verlief. Sie hatten beide nicht gewusst, wie fit sie mit dem Rad wirklich waren und so hatten sie die Wahl, an welchem Bahnhof sie die Tour abbrechen würden. Marie konnte dann leicht zurück nach Köln fahren und Flo in die andere Richtung in den Westerwald.

„Also ich brauche ne kleine Pause", erklärte Flo und deutete auf eine Bank, die ein paar Meter weiter am Siegufer stand.

„Einverstanden."

Sie setzten sich und tranken schweigend, während sie in die Gegend schauten. Ab und an kamen andere Radler vorbei oder ein paar ehrgeizige Inlineskater.

„Wie hältst du es eigentlich in Köln aus?"

„Hm?" Marie sah ihn an und musste die Frage erst bei sich ankommen lassen. „Du meinst, weil es ne Stadt ist? Ja, geht so. Brauch schon ab und an ne Dosis Grün."

„Das dachte ich mir schon." Flo nickte. „Als ich studiert hab, war mir das ja egal. Fand's ganz cool in Mainz. Allerdings bin ich schon echt froh, dass ich jetzt wieder auf'm Land wohne."

„Manchmal frage ich mich schon, was gewesen wäre, wenn ich einfach dageblieben wäre", gab Marie zu.

„Na ja, zum Studieren hättest du ja so oder so wegziehen müssen."

„Hätte auch direkt ne Ausbildung machen können."

„Mit deinem Einser-Abi?" Er lachte.

„Weißt doch, wie das bei mir war", erinnerte sie ihn. „Und so gesehen hab ich ja auch nicht wirklich ne Karriere in der Wissenschaft gemacht." Sie grinste. „Lieber der sichere Weg."

„Du wärst sicher auch ne gute Lehrerin geworden."

„Oh Gott, nein!" Marie schüttelte sich. „Hab ja jetzt schon Probleme mit den lieben Kleinen. Aber... dich kann ich mir echt gut vorstellen. Bist sicher so'n cooler Lehrer jetzt. Einer, bei dem der Unterricht Spaß macht."

„Ich hoff's, aber gerade Musik ist da eh ein dankbares Fach und nun ja – du weißt, ich habe Frau Rothe beerbt. Da fällt es echt nicht schwer, beliebt zu sein, so im Vergleich."

„Ach herrje, diese Frau..." Marie legte die linke Hand über ihre Augen. „Schrecklich. Aber mal ganz ehrlich..." Sie sah ihn an. „Auf einer Skala von eins bis zehn: Wie weird ist es, an der alten Schule zu arbeiten? Da biste doch auch noch auf unsere Lehrer von damals getroffen. Und... no offense, aber du warst ja schon so ein kleiner Störenfried."

Flo grinste breit. „Das war am Anfang echt seltsam, vor allem für mich. Die alten Lehrer hatten alle diesen Blick à la Na, jetzt wird der junge Mann mal sehen, wie es auf dieser Seite aussieht. Letztlich waren die alle super freundlich und hilfsbereit. Die Schüler hingegen... puh, also da hat sich schon was geändert, seit wir da waren."

„Ach echt? Auch in unserem Städtchen?"

„Ja, ich bin ja Vertrauenslehrer. Früher war das so eine Zusatzaufgabe, bei der man kaum mal etwas zu tun hatte. Mittlerweile allerdings habe ich zwei Sozialarbeiter mit denen ich im Team arbeite. Die sind zwar nicht immer da, aber... nötig. Wirklich nötig."

Strange attraction (Felix Lobrecht FF)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt