56. Midsommar

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Midsommar


Lieber Felix,

vermutlich hast du nicht wirklich damit gerechnet, dass ich dir ne Postkarte schreibe. Aber ja, ich mach so'n Quatsch. Der Roomservice ist ne Katastrophe (Lucia und ich können uns einfach nicht darauf einigen, wer den übernehmen soll) und wir müssen ernsthaft selbst kochen. Bin Fahrrad gefahren ohne Helm. Aber die Straßen in Dalarna sind zum Glück nicht so gefährlich wie die in Köln. Hab Lakritzeis gegessen. Ja, es schmeckt genau so, wie man es sich vorstellt. Habe in Rättvik schwedische HipHopper gesehen. Streetstyle. Hingen vor dem Altersheim herum. Im Wesentlichen lautete ihre Botschaft frei übersetzt: Esst mehr sauren Fisch, ihr Beutelschneider! Kann aber auch sein, dass ich da was falsch verstanden habe. Schwimmen im See steht noch aus. War etwas kalt, aber jetzt scheint die Sonne. Ja, übers Wetter reden – so was gehört auf jede gute Postkarte. Hoffe, dir geht es gut (das schreibt man auf Postkarten, um den Empfänger daran zu erinnern, dass er selbst traurigerweise gerade keinen Anlass hat, ne Karte zu schreiben). Nein, wirklich, ernst gemeint. Med vänliga hälsningar (Schöne Grüße)! Marie.

Felix Lobrecht: Hey! Hab gerade noch deine Karte bekommen, bevor ich nach Cottbus aufbreche. Find's niedlich. Speaking of...Hätte fast ne Lupe gebraucht. Danke!

Marie las die Nachricht, als Lucia und sie gerade eine Pause eingelegt hatten auf ihrer kleinen Radtour Richtung Nusnäs. Sie musste unwillkürlich lächeln.

„Langsam wird's auffällig", sagte Lucia gespielt genervt.

„Was?"

„Deine gute Laune. Und ich wette, ich weiß, von wem du gerade was gelesen hast." Lucia streckte ihre Arme links und rechts auf der Rückenlehne der Bank aus.

„Bin auch so gut gelaunt", stellte Marie klar.

„Stimmt."

„Und zum Glück habe ich keine manischen Züge, also ist das vollkommen unbedenklich." Marie war wirklich froh, dass sie in letzter Zeit ein wenig unbeschwerter in die Welt schaute. Auch wenn sie wusste, dass es jederzeit wieder anders sein konnte. Ihre Probleme hatten sich ja nicht in Luft aufgelöst. Aber sie wollte es genießen, so lange es ging.

„Also war es gar nicht dein netter Nachbar?", fragte Lucia grinsend.

„Doch. Karte ist angekommen." Marie schraubte die Wasserflasche auf und nahm einen großen Schluck.

„Das ging ja schnell."

„Mhm." Marie kam es irgendwie schon sehr lange her vor, dass sie die Postkarte abgeschickt hatte. Sie konnte sich nicht mal mehr an alles erinnern, was sie geschrieben hatte. Aber sie hatte sehr klein geschrieben und den Platz voll ausgenutzt, auch die Hälfte, wo man normalerweise die Adresse eintrug. Sie hatte ohnehin vorgehabt, die Karte in einen Briefumschlag zu stecken. Hauptsächlich, weil sie nicht wollte, dass jemand mitlas. Wobei es in Berlin wahrscheinlich weniger oft vorkam, dass ein neugieriger Postbote sich für die Grüße auf einer Postkarte interessierte als auf dem Land. Marie erinnerte sich, dass sie eines Tages aus der Schule nach Hause gekommen war, und der Briefträger ihr vor der Haustür lächelnd eine Karte überreicht hatte mit der Ansage: „Schöne Grüße von deiner Oma. Rom ist ihr zu schmutzig."

Lucia hatte die Augen geschlossen. „Noch zwei Tage bis zum Fest", murmelte sie. „Dann zwei Tage und wir fliegen wieder. Dann muss ich zu Mama und Stefan. Zu Kiki nach Frankfurt. Dann ab nach Brüssel."

„Hört sich nach Stress an", urteilte Marie.

„Ach, i wo! Ich lass mich nicht stressen." Sie öffnete die Augen wieder. „Allerdings... Kiki hat Geburtstag. Ich brauche noch ein Geschenk. Und da ich in den letzten Jahren eine eher abwesende große Schwester war, sollte ich mir wohl was echt Gutes einfallen lassen."

Strange attraction (Felix Lobrecht FF)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt