46. Domino

1.5K 39 6
                                    

Domino

„Haben Sie etwas über Keto?" Die Frau vor Marie hatte sich ohne einen vorhergehenden Gruß an sie gewandt. Aber das war sie gewohnt. Manchmal dachten die Leute, die Mitarbeiter am Infotisch seien nicht mehr als atmende Computer mit Suchfunktion.

„Guten Tag", sagte Marie freundlich und lächelte höflich. „Meinen Sie Keto-Ernährung?"

„Ja, genau." Die Mittvierzigerin, die ihrer Figur nach nicht unbedingt eine Diät benötigte, erwiderte ihr Lächeln.

Immerhin. „Einen Moment, bitte. Wir haben da auf jeden Fall etwas." Marie traf die entsprechenden Vorauswahlen und tippte ein Stichwort ein. Sie nahm einen Zettel und schrieb etwas auf, bevor sie sich wieder an die Kundin wandte. „Einmal haben wir drei Titel im Bereich Medizin. Wenn Sie an den wissenschaftlichen Hintergründen interessiert sind und sich über den Therapie-Ansatz und die Risiken informieren wollen, wäre das wahrscheinlich das Richtige. Ansonsten finden Sie noch mehrere Bücher mit Anleitungen und Rezepten in unserer Koch- und Backabteilung."

„Ich dachte eher an Rezepte, ja", erklärte die Frau.

„Gut", sagte Marie. „Soll ich Ihnen zeigen, wo Sie die Bücher finden oder reicht Ihnen die Signatur?"

„Ich weiß, wo die Kochbücher sind. Wenn Sie es mir aufschreiben würden?"

„Hier." Marie gab ihr den Zettel. „Die sechs unteren Titel. Sie stehen in dem Regal am Fenster, Spezielle Ernährungsweisen."

„Danke. Das werde ich dann wohl finden." Die Frau nickte Marie mit einem Lächeln zu und verschwand.

Marie wandte sich wieder ihrer Erwerbungsliste zu. Aber so richtig konzentrieren konnte sie sich nicht. Es war meistens nicht viel los in der Mittagszeit und eigentlich kam sie dann auch außerhalb des Büros gut voran mit ihrer Lektoratsarbeit. Nur heute klappte es eben nicht so. Da war es ihr schon lieber, wenn jemand vorbeikam und sie etwas fragte. Sie schaute auf die Zeitanzeige am Computer. Noch zwanzig Minuten, dann würde sie abgelöst und sie konnte ihre Pause machen. Ihr Magen knurrte. Zwei Uhr war ohnehin ein bisschen spät für sie als Zeit fürs Mittagessen. Und heute war ihr Frühstück auch sehr spärlich ausgefallen. Sie schaute wieder auf die Liste, verglich etwas, suchte im System nach einem Titel, setzte Haken, strich Titel, versah sie mit Fragezeichen.

„Bin gleich bei dir", riss sie eine Stimme aus ihrer endlich wiedererlangten Konzentration. Sie schaute sich um und entdeckte Marcel, der gerade mit ihrer Kollegin Ingrid die Treppe hochgekommen war, jetzt Richtung Büroflügel ging und sie mit erhobener Hand anlächelte. Marie erwiderte den Gruß träge. Ingrid nickte ihr zu.


Marie holte ihre Tasche aus dem Büro und ihr Essen aus dem Kühlschrank in der Teeküche, ehe sie die Bücherei verließ und zwei Häuser weiter in einen Hinterhof einbog, diesen überquerte und auf der anderen Seite zu einem winzigen Park gelangte. Yasemin saß auf einer Bank und packte gerade ihre Sachen zusammen. „Ach, Marie, gar keine Zeit zum Quatschen heute, wie?"

„Ne." Marie lächelte.

„Ich wäre gestern besser auch mal früher nach Hause gegangen. Hat sich gezogen. Und Beate und Marcel haben einen Mist geredet nachher, war echt nervig." Sie hängte sich ihre Tasche über die Schulter. „Sei froh, dass du schon weg warst. Hast nix verpasst. Und dafür siehst du heute aus wie frisch aus dem Ei geschlüpft."

„Ach ja?" Marie fühlte sich gar nicht so. Sie fühlte sich übermüdet. Was ja kein Wunder war.

„Ja doch", bestätigte Yasemin. „Ich muss mir auch mal wieder angewöhnen, früher ins Bett zu gehen."

Strange attraction (Felix Lobrecht FF)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt