101. Klopfen

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Klopfen

Im ersten Moment war das Wasser kalt. Blitzschnell bildete sich eine allumfassende Gänsehaut, Marie zog scharf die Luft ein und war sich sicher, dass ihr Herz einen Schlag ausgesetzt hatte. Aber dann ging es wieder. Die Tropfen fielen auf sie herab wie bei einem warmen Sommerregen. Sie schloss die Augen und wartete, bis die Wärme ihren ganzen Körper erreicht hatte und sie entspannte. Eine Weile stand sie nur so da, aber dann erinnerte sie sich daran, dass sie eigentlich müde war und schnell ins Bett wollte. Sie benutzte Shampoo und Spülung, seifte ihren Körper sorgfältig ein. Danach genoss sie ein wenig zu lange das warme Strömen auf sich. Sie drehte sich um und wollte das Wasser abstellen. Aber auf einmal sah alles seltsam aus. Die Armatur, die Fliesen, das Licht. Gott, sie war in Berlin. Bei ihm, bei Felix. Was zum Teufel machte sie hier? Das war doch nicht normal. Das war doch nicht sie. Und was hatten sie vorhin im Auto für einen Scheiß geredet? Was hatte sie für einen Scheiß erzählt? Was dachte er nur von ihr? Verdammt. Nicht er war der Creep hier. Sie war es. Der Freak, der Sonderling. Warum gab es davon keine weibliche Form? Die müsste für sie erfunden werden. Fuck! Sie stellte das Wasser ab. Einatmen, ausatmen. Warum war sie hier? Weil er es gesagt hatte. Weil sie gedacht hatte, sich eingebildet hatte, dass er...was? Sie irgendwie brauchen würde? Komm schon, Marie, mach dich nicht lächerlich. Du gehörst hier nicht her. Er ist nur zu nett, um dir das zu sagen. Und dann seine Freunde heute. Was mussten die sich gedacht haben? Ob Felix öfter mal so komische Frauen anschleppte? Vermutlich hatte er eine soziale Ader. Helfersyndrom oder so. Fuck! Fuck! Fuck! Marie kniff die Augen zusammen und klopfte mit den Fingerknöcheln an ihre Stirn. Warum war sie nur so bescheuert? Was bildete sie sich überhaupt ein? Dass er sie wirklich hier haben wollte? Er war einfach zu nett gewesen, um ihr direkt wieder die Tür zu weisen. Er war einfach zu nett. Jetzt musste er sich auch noch um sie kümmern, weil sie natürlich heillos überfordert war mit dieser Stadt und seinem Umfeld und alldem. Dabei hatte er doch echt Besseres zu tun und musste selbst schauen, wie er klarkam. Fuck! Als ob sie in der Lage war, irgendwem zu helfen. Sie öffnete die Augen. Ihr Herz pochte. Super, das jetzt auch noch. Panikattacke incoming in five, four, three... Hör auf, Marie! Einatmen, ausatmen. Ausatmen! Ruhig, ganz ruhig. Ausatmen. Ausatmen.

Ein Klopfen an der Badezimmertür ließ sie aufschrecken. „He! Alles in Ordnung da drin?" Felix.

Marie schaute zur Tür. Einatmen, ausatmen. „Ja." Sie räusperte sich, weil ihre Stimme versagte. „Ja, alles in Ordnung."

„Dachte schon, du bist unter der Dusche eingeschlafen."

„Ne. Bin nur... nicht so schnell."

„Alles klar, lass dir Zeit."

Einatmen, ausatmen. Marie fühlte sich, als wäre sie aus einem Traum erwacht. Vielleicht war sie wirklich nicht mehr ganz da gewesen. Alles gut, Marie. Alles gut. Er freut sich, dass du hier bist. Das kannst du ihm doch einfach mal glauben. Und was er vorhin im Mercedes gesagt hat... Etwas waberte in ihrem Brustkorb, so als hätte sie zu viel Koffein zu sich genommen. Nimm es einfach an, Marie. Genieß es und stell nicht alles in Frage. Sie fuhr sich mit der Hand übers Gesicht. Sie war sich nicht ganz sicher, ob sie nicht vielleicht ein paar Tränen geweint hatte. Sicherheitshalber stellte sie noch einmal das Wasser an und duschte sich ab.

Sie trat an eines der Waschbecken. Es gab hier tatsächlich zwei davon. Und einen breiten Spiegel, der fast die gesamte Breite der Wand einnahm. Sie schaute hinein. Nein, sie sah nicht verheult aus. Gut. Sie trocknete sich ab, schlang ihre nassen Haare in ein Handtuch, cremte sich ein, putzte sich die Zähne. Sie sollte nicht so lange machen, Felix wartete ja offensichtlich. Vermutlich wollte er auch ins Bad. Sie zog sich Slip, Shorts und Schlafshirt an, schnappte sich ihre Wäsche und verließ das Bad.


Marie fand Felix auf der Dachterrasse. Sie hatte sich erst gewundert, dass er nicht im Schlafzimmer gewesen war und einen kurzen Moment hatte sie irgendwie fast schon Angst gehabt. Irrational. Aber nein, da stand er und schaute in den Nachthimmel. Marie ging zu ihm, merkte aber schon auf dem Weg, dass es ihr draußen definitiv zu kalt werden würde. „Bin fertig", sagte sie. „Bad ist frei." Er drehte sich um und musterte sie. Sie verschränkte die Arme und rieb sich über die Oberarme.

Strange attraction (Felix Lobrecht FF)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt