12. Schattenspringer

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Schattenspringer

24. Dezember

Marie: Falls du zu viele Nachrichten bekommst und gar keinen Bock auf Geburtstagsgrüße hast, bitte ich dich, diese Nachricht zu ignorieren. Ansonsten: Gerne weiterlesen.
Wenn du heute Morgen (oder, seien wir realistisch, vermutlich eher am Mittag oder Nachmittag) deine Geschenke auspackst, stell dir einfach die von Neid zerfressenen, halb wütenden, halb verheulten Gesichter aller Kinder vor, die noch bis heute Abend warten müssen, bis sie ihre verdammte PlayStation (oder Barbie oder was auch immer Kinder heute geschenkt bekommen) auspacken dürfen. Und ja, es ist moralisch völlig in Ordnung, wenn du bei diesem Gedanken dann Genugtuung empfindest.
Alles Gute zum Geburtstag!
Und... Frohe Weihnachten!
Liebe Grüße, Marie


1. Januar

„So, da sind wir schon."

„Wegen mir hättest du keinen neuen Rekord aufstellen müssen." Marie schnallte sich ab.

„Ach komm schon, die Autobahn war frei." René lachte. „Bin ja froh, wenn ich ihn mal ausfahren und ne Strecke über 100 km/h fahren kann. Dann zieht er besser." Er öffnete die Autotür und stieg aus. Es nieselte leicht, und er zog sich die Kapuze seiner schwarzen Sweatjacke hoch über seinen Kopf, der mit raspelkurzen braunen Haaren bedeckt war.

Marie verließ den alten Golf ebenfalls und wartete, bis ihr Cousin den Kofferraum geöffnet hatte. Sie schnappte sich ihren großen Rucksack und legte ihn sich an. „Erster Tag im Neuen Jahr. Alles schon wieder vorbei", sagte sie traurig.

„Ja, schade. Wann kommst du nächstes Mal?"

„Spätestens an Omas Geburtstag, denke ich mal."

René nickte. „Ist ja nicht mehr lang."

„Mhm." Marie musste schlucken. Der Abschied heute Morgen von allen war ihr schwergefallen. „Na gut, dann... du musst ja wieder zurück, also..."

„Komm schon, einmal drücken!" Er streckte seine Arme einladend aus.

Marie lächelte und umarmte ihn. Ihr Cousin roch wie immer nach Holz, auch wenn er die letzten Tage nicht gearbeitet hatte. „So... dann...", sagte sie, als sie sich wieder voneinander gelöst hatten.

„Warte mal, du hast da was." Er griff irgendwo neben ihr Ohr. „Tannennadel", sagte er triumphierend.

„Habe vorhin noch mal den Weihnachtsbaum gegossen", erinnerte sich Marie und fühlte in ihren Haaren, ob noch mehr Nadeln stecken geblieben waren.

René schaute auf seine Armbanduhr. „Weißt du was, ich komm gerade noch mit hoch, ja?"

Marie lächelte überrascht. „Klar, gerne. Wenn du noch Zeit hast."

„Sind ja früh los."

Sie überquerten nebeneinander die Straße und betraten das Haus. Marie leerte den Briefkasten, der mit Werbung überquoll, obwohl sie ein Schild angebracht hatte, das dies eigentlich verhindern sollte.

„Bist aber auch noch nicht richtig eingerichtet", urteile René, als sie ihre Wohnung betreten hatten.

„Weiß nicht." Marie zuckte mit den Achseln. „Fühlt sich irgendwie noch immer wie eine vorübergehende Sache an. Aber ich denke, ich werde schon noch was ändern in den nächsten Wochen."

„Sag Bescheid, wenn du Hilfe brauchst. Kann ja mal am Wochenende vorbeikommen."

„Du hast doch genug zu tun."

„Ach Quatsch." René winkte ab. „Da finde ich schon Zeit für." Er ging in die Küche. „Haste was zu trinken da?"

„Klar." Sie öffnete den Kühlschrank. Ihr Cousin mochte seine Getränke lieber gekühlt. Sie nahm eine Packung Apfelsaft, holte zwei Gläser aus dem Küchenschrank und stellte alles auf den Tisch. Dann ließ sie das Wasser am Spülbecken etwas ablaufen, bevor sie eine Karaffe damit befüllte.

Strange attraction (Felix Lobrecht FF)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt