99. Gesichter

957 48 9
                                    

Gesichter

„Okay. Leude, dit is Marie. Marie, dit sind Kawus, Daniel, Esther und Nadja. Julian und Kinan kennste schon. Der Rest der Crew is in Urlaub oder hat sonst welche fadenscheinigen Ausreden gefunden, um sich hiervor zu drücken."

„Hi", sagte Marie knapp, aber freundlich lächelnd in die Runde und bemühte sich, alle Anwesenden kurz anzuschauen und dabei nicht zu offensichtlich zu zeigen, dass sie gerade etwas überfordert war. Und „etwas" war die Untertreibung des Jahrhunderts. Der einzige Grund, warum sie hier war, war der, dass sie Felix nicht alleine hatte fahren lassen wollen. Natürlich hatte sie ihm das nicht gesagt. Er hatte sie noch nicht mal richtig gefragt, ob sie mitkommen wollte. Er war einfach fest davon ausgegangen. Und sie war schließlich nach Berlin gekommen, weil sie sich Sorgen um ihn gemacht hatte. Ihre eigenen Ängste zu unterdrücken oder besser zu überwinden war da immerhin einen Versuch wert. Also war sie mitgekommen, in das, was er seine „Firma" genannt hatte. Er hatte ihr irgendwas erklärt, irgendwas von den Aufnahmen von der Stand-up-44-Show und dass sie da noch was machen wollten. Und jetzt war sie hier. Das Reh im Scheinwerferlicht, wobei dieses Scheinwerferlicht sich zusammensetzte aus diesen Leuten, die seine Freunde waren, seine Kollegen, seine Mitarbeiter. Sie nickten Marie zu, lächelten, sagten „Hallo" oder Ähnliches. Sicher waren das alles total nette Menschen. Aber trotzdem wünschte Marie sich umgehend, unsichtbar zu sein. Die tun dir nix, Marie, alles gut. Die interessieren sich doch gar nicht für dich. Die urteilen nicht, wie du aussiehst oder angezogen bist. Na hoffentlich. Ist denen egal, echt. Das ist unwichtig. Die haben heute hier was zu tun. So, durchatmen und überleben.

Zum Glück war die Aufmerksamkeit nicht lange auf ihre Person gelenkt. Offenbar steckten sie alle schon in irgendwelchen Vorbereitungen. Eine der beiden Frauen schrieb in großen Lettern Stichworte auf einen Block, wobei einer der Männer ihr was diktierte. Nadine? Kawus? Marie glaubte nicht, dass sie sich die Namen richtig hatte merken können, geschweige denn die Zuordnung zu den jeweiligen Gesichtern schaffen würde. Sie hoffte, nicht in peinliche Situationen zu geraten. Julian schraubte an irgendeinem schwarzen Gestell herum, vielleicht ein Kamerastativ. Immerhin an seinen Namen hatte sie sich ganz von selbst erinnern können. Und Kinan. Nun ja, das war eine wirklich kurze Begegnung gewesen, damals in der Comedykneipe. Die anderen Gesichter kannte sie bisher nur von der Bühne in Bonn oder von Videos auf YouTube oder eben gar nicht. Oder – eine ganz verschwommene Erinnerung, in die sie nicht abtauchen wollte – aus einer gewissen Tiefgarage. Aber damals war sie in einem etwas desolaten Zustand gewesen und daran wollte sie jetzt echt nicht denken.

„So." Marie spürte eine Hand zwischen ihren Schulterblättern. Felix. „Dit war dit. Also..." Er schob sie sanft in eine Richtung und Marie verstand, dass er sie durch den nächsten Raum führen wollte. Das alles hier war riesig und bestand aus mehreren Räumen, die teils fließend ineinander übergingen. Sie hätte gar nicht sicher sagen können, was das nun alles war. Büro? Studio? Lounge? Offensichtlich konnte hier auch Tischtennis gespielt werden. Na gut. „Da der Kühlschrank ist voll mit Getränken." Felix stand neben ihr und deutete auf das Gerät. „Toiletten sind durch die Tür und dann den Gang lang, die Notausgänge befinden sich rechts und links und ansonsten..."

„Ansonsten werde ich mich einfach im Hintergrund halten und zugucken, okay?" Marie lächelte ihn an.

„Gute Idee. Wenn was is, sag Bescheid."

„Du meinst, wenn ich den Flaschenöffner nicht finde?"

„Jenau."

„Okay. Ich komm schon klar." Sie sah ihn an, um einen festen, überzeugenden Blick bemüht.

„Sicher?"

„Sicher."


„Ne, dit is nich jut." Felix sah kopfschüttelnd auf das Display der Kamera.

Strange attraction (Felix Lobrecht FF)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt