1. Halber Neustart

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Halber Neustart


Mit einem entnervten Seufzer stellte Marie den Karton vor sich ab, schloss die Wohnungstür hinter sich, steckte den Schlüssel ins Schloss und drehte ihn um. Erleichtert atmete sie durch. Sie schaute links in das Badezimmer. Sauber und mit den wichtigsten Dingen für die ersten Tage ausgestattet. Den Duschvorhang hatte sie vorhin noch aufhängen können, nachdem ihr Cousin ihr geholfen hatte, die etwas wackelige Stange zu fixieren. Sie freute sich darauf, heute Abend das erste Mal in ihrer neuen Wohnung duschen zu können.

Das zweite Zimmer war eher praktisch als schön eingerichtet: ein riesiger Schreibtisch und ein viel zu teurer Schreibtischstuhl, dahinter das größtmögliche Regal, das an die Wand gepasst hatte, und das sie bereits mit den Gegenständen gefüllt hatte, die für sie am wichtigsten waren: Büchern. Das Zimmer würde eindeutig ihr Büro- und Arbeitszimmer sein, und doch würde sie sich dort am wohlsten fühlen. Die andere Hälfte des Raumes beinhaltete einen Fernseher ohne Anschluss und eine Couch. Eine Schlafcouch. Falls mal Besuch kommen sollte. Die Couch war zum Schlafen eigentlich zu ungemütlich. Aber sie würde wohl auch kaum oft Besuch bekommen.

Dann das Schlafzimmer. Der Kleiderschrank war nur halb gefüllt. Sie hatte den Umzug genutzt, um auszumisten. Sie war ohnehin nicht besonders modebewusst. Das Bett war zu groß. Sie hatte es sich gekauft, als sie noch mit ihrem Exfreund zusammen gewesen war. Die Investition hätte sie sich auch sparen können. Aber sie hatte das Bett dennoch behalten. Es war bequem.

Rechts befand sich die Küche. Marie war begeistert, dass sie so groß war. Sogar Platz genug für eine gemütliche Sitzecke gab es. Ein letztes Mal an diesem Tag hievte sie den schweren Karton hoch, trug ihn in die Küche und stellte ihn auf dem Esstisch ab. Sie lächelte, als sie die Küchenutensilien auspackte und entschloss sich spontan dazu, dass jetzt die richtige Zeit war, um ein wenig gute Musik zu hören. Sie verband die kleine Stereoanlage, die provisorisch auf der Fensterbank neben einem Topf Schnittlauch stand, via Bluetooth mit ihrem Smartphone und entschied sich für eine ihrer Lieblingsplaylists von den Beatles. Sie begann, Gläser, Teller und Geschirr in die Schränke zu räumen und sang währenddessen laut mit. Nicht zu laut natürlich. Sie wollte nicht, dass sie jemand außerhalb der Wohnung hörte. Sie wollte niemanden belästigen. Als sie fertig war, schaute sie auf die Uhr. Perfekt. Gerade die richtige Zeit, um mit der Zubereitung des Abendessens anzufangen. Sie hatte sich wie immer einen Plan gemacht und am Morgen bereits eingekauft. Sie begann, Gemüse zu schneiden. Sie hörte auf zu singen, als „With a little help from my friends" lief. Sie weinte und schaffte es sogar kurz, sich einzureden, es käme lediglich von den Zwiebeln, die sie gerade zerkleinerte. Aber es war bald wieder vorbei. Sie aß und schaltete währenddessen den Kulturfunk ein. Manchmal glaubte sie, dass sie so eine Person sein sollte. Gerade jetzt, wo sie in diese Wohnung hatte ziehen dürfen.

Um halb acht duschte sie. Das war spät für sie an einem Tag, an dem sie nicht zur Arbeit ging. Sie liebte es, sich nach dem Duschen noch auf die Couch zu kuscheln und ein Buch zu lesen. Manchmal legte sie sich auch ins Bett und träumte vor sich hin, dachte ihre eigenen Geschichten durch und machte sich dann Notizen für den nächsten Tag.

Aber heute war es anders. Heute war der erste Tag eines neuen Lebensabschnitts. Sie ließ sich Zeit beim Duschen, machte ein Peeling, ließ in ihren Haaren eine Kur einwirken und trocknete sich behutsam ab. Schließlich stand sie vor dem Spiegel, der beschlagen über dem Waschbecken hing. Sie nahm ein Handtuch und wischte ihn frei. Sie betrachtete sich, war froh, dass ihre Gesichtshaut mittlerweile nicht mehr der eines Teenagers glich. Sie lächelte sich an. Für einen Moment funktionierte dieser Trick und sie fühlte sich gut.

„Du bist jetzt eine Autorin", sagte sie sich und sofort gingen ihre Mundwinkel nach unten. Was für ein Schwachsinn. Das war doch alles nur ein Zufall. Sie hatte dieses Buch geschrieben und selbst veröffentlicht. Ein Verlag war auf sie aufmerksam geworden, hatte es neu herausgebracht. Die Verkaufszahlen waren – so hatte es ihr der Juniorchef des Verlages höchstpersönlich gesagt – „beachtlich für eine No-Name-Autorin". Die überdies nicht gerade kooperativ war, wenn es darum ging, die üblichen Marketing-Strategien der Verlage zu unterstützen. Marie hatte darauf bestanden, anonym zu bleiben. Es gab keine Fotos von ihr, keine Lesungen. Offiziell war noch nicht mal bekannt, ob sie eine Frau oder ein Mann war – auf dem Buch hatte als Autor „E. M. Jansen" gestanden.

Strange attraction (Felix Lobrecht FF)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt