113. Sentimental

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Sentimental

Marie wollte die Augen schließen, aber sie konnte nicht. Sie versuchte eine Sichtachse zu finden, die ihr erlaubte, an allen Insassen der S-Bahn vorbeizuschauen. Leider konnte sie nicht zum Fenster hinaussehen, da sie am Gang saß und sie somit irgendwie ihre Sitznachbarn hätte anstarren müssen. Es war voll. Und ein Abteil weiter und doch viel zu nahe saßen zwei Betrunkene. Richtig betrunken. Es war erst kurz nach fünf Uhr. Es war mitten in der Woche. Sie war nicht die einzige, der das unangenehm war. Die meisten in der Bahn waren auf dem Weg nach Hause. Viele versuchten krampfhaft die beiden jungen Männer zu ignorieren. Betrunken und laut. Sie lallten. Vielleicht gut so. Marie glaubte nicht, dass sie etwas Wichtiges oder auch nur Angenehmes zu sagen hatten.

„...reinjeballert...Sackjeseech...Haftbefehl."

Okay. Marie riskierte es jetzt doch, ihre Sitznachbarn mehr oder weniger anzusehen, um es irgendwie zu schaffen, halb an ihnen vorbei aus dem Fenster zu schauen. Einfach nicht mehr hinhören. Sie hoffte, dass die zwei nicht wirklich mit Haftbefehl gesucht wurden. Vielleicht meinten sie ja auch den Rapper. Ja genau, Marie. Die gehen sicher heute noch auf ein Konzert und haben sich einfach schon mal einen angetrunken. Allerdings fahren sie dann in die falsche Richtung. Sie atmete durch und glaubte, Bier zu riechen. Wobei die beiden sicher härteren Alkohol zu sich genommen hatten. Noch zwei Stationen.

Die S-Bahn näherte sich ihrer Haltestelle. Marie hoffte, dass die beiden Typen nicht auch aussteigen würden. Sie musste an ihnen vorbei. Kurz bevor die Bahn hielt stand Marie auf und ging schnell den Gang entlang. Ein Bierwind wehte sie an, ein unkoordiniertes Kichern, das irgendwie feucht klang, dann stand sie an der Tür, die sich sogleich öffnete. Marie eilte den Bahnsteig entlang und die Treppe hoch. Sie hatte das Gefühl, dass etwas unter ihren Schuhen klebte. Sicher Bier. Vielleicht war da eine Bierlache in der Bahn gewesen. Sie schaute sich nicht um, aber sie ging davon aus, dass die beiden Betrunkenen sitzen geblieben waren. Immerhin.

Als sie in ihre Straße einbog, konnte sie den Ekel endlich zumindest etwas abschütteln. Das war kein guter Tag gewesen. Ein anstrengender Kunde, der sie nicht für voll genommen hatte. Er hatte darauf bestanden, mit Marcel zu sprechen, „Ihrem Chef". Sehr lustig. Und Marcel hatte das noch nicht mal klargestellt. Sie hatte sogar den Eindruck gehabt, dass der sich darüber amüsiert hatte. Es war nicht das erste Mal, dass Kunden dachten, Marcel sei der Chef. Nur weil er ein Mann war vermutlich. Echt unmöglich. Und dann hatte er später im Büro noch mit Marie darüber scherzen wollen. Nein, danke. Es war ohnehin noch immer seltsam zwischen ihnen, seit er den dämlichen Tinder-Spruch gebracht hatte. Sie hatte schon gemerkt, dass sie froh war, wenn sie keinen Dienst zusammen mit ihm hatte.

Oh Mann. Sie schüttelte sich. Lass es, Marie. Jetzt hast du ein paar Tage frei. Ausspannen und nicht an die Arbeit denken. Dafür an Felix. Sie hoffte, dass er kommen würde. Am besten noch heute. Er hatte sich noch nicht gemeldet. Aber vielleicht wäre er ja gleich schon da. Das wäre vermutlich ein guter Weg um ihren Tag noch zu retten. Sie war fast zu Hause und achtete auf die Autos, die am Straßenrand parkten. Als sie vor dem Tor stand, schaute sie sich noch mal um. Nein. Kein weißer Mercedes. Wäre ja auch zu schön gewesen.


Marie stieg aus der Dusche, cremte sich ein und zog sich Slip und Schlafshirt an. Nein. Es war heute so schön draußen, sie sollte sich noch auf den Balkon setzen und dann nachher da zu Abend essen. Sie ging ins Schlafzimmer, zog das Schlafshirt aus und stattdessen Jogginghose und T-Shirt an.


And the waves crashing around me, the sand slips out to sea
And the winds that blow remind me
Of what has been, and what can never be...

Marie sang leise mit. Sie hatte das ewig nicht gehört. Bluegrass? Sie war sich nicht sicher. Irgendwie beruhigend, aber auch melancholisch. Sie gab die geschnittenen Tomaten in den Topf zu den angebratenen Zwiebeln und Gewürzen. Nein, sie wollte jetzt nicht in so eine sentimentale Stimmung kommen. Sie ging zur Fensterbank und schnappte sich ihr Smartphone. Die Ärzte? Gingen eigentlich immer. Sie stellte eine der Playlists an und schaute aus dem Fenster. Es waren zwei Parkplätze frei, direkt gegenüber. Aber kein weißes Auto. Vermutlich würde er wirklich erst morgen Abend da sein. Das war okay, er hatte es ja so angekündigt. Vielleicht sollte sie sich nachher mal ein paar Videos von diesem Format anschauen, bei dem er mitmachte. Irgendwas davon hatte sie ja schon gesehen, was mit ihm. Aber wenn sie sich mehr anschaute, könnte das vielleicht nicht schaden. Falls sie sich morgen doch überwinden sollte, Felix in diesem Studio zu treffen. Nein, seltsame Vorstellung. Ihr wurde schon wieder flau im Magen. Aber vermutlich hatte sie auch einfach Hunger. Sie wandte sich ab, gab die Kokosmilch in den Topf und legte den Deckel drauf.
Die Frauen liegen uns zu Füßen, die Frauen zollen uns Tribut
Was wir natürlich sehr begrüßen: Selbst unsere Füße riechen gut
Da brat mir einer 'n Storch und die Beine recht knusprig
Da brat mir einer 'n Storch und die Beine recht knus – hä?

Strange attraction (Felix Lobrecht FF)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt