60. Allein

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Allein

Als sie die Wohnungstür ins Schloss fallen hörte, durchfuhr Marie ein kurzes, kaltes Schaudern. Sie zog sich Socken und Jogginghose an und ging vom Schlafzimmer in den Flur, um die Tür abzuschließen. Kurz meinte sie, Stimmen im Treppenhaus zu hören, weit weg. Vielleicht Felix und Tommi vor der Wohnung oben. Sie wandte sich ab und ging zurück ins Schlafzimmer. Auf dem Boden vor dem Bett lag ihre Strickjacke, die sie nahm und anzog. Ihr war wieder kalt. Am Fenster stehend schaute sie hoch in den Himmel. Graue, schwere Wolken, aus denen es ununterbrochen regnete. In den Häusern gegenüber war kein Licht zu erkennen. Marie stellte sich auf die Zehenspitzen, um über die Bistrogardine hinweg auf die Straße hinuntersehen zu können. Ein Auto fuhr vorbei. Die beiden rechten Reifen rollten nacheinander durch eine gut gefüllte Pfütze und ließen das Wasser aufspritzen. Fußgänger waren keine zu sehen. Sie schaute wieder zu den Fenstern auf der gegenüberliegenden Straßenseite. Nein, man kann hier nicht reinschauen, Marie. Nicht, solange kein Licht an ist. Sie schlang die Jacke fester um sich und sah dem Regen beim Fallen zu. Keine gute Idee. Sie schüttelte sich und wandte sich ab, nahm ihr Smartphone und suchte eine Playlist heraus. Im Gehen scrollte sie die Liste durch. Alles nicht das Richtige. In der Küche verband sie ihr Handy per Bluetooth mit der kleinen Lautsprecherbox. Na gut, wenn das nicht passte – sie startete Rainy day in June.

Kurz erinnerte Marie sich an einen anderen regnerischen Tag und einen verkaterten Übernachtungsgast, der sie bei diesem Lied erschreckt hatte. Die Kaffeemühle stand noch auf der Arbeitsplatte, die Schranktür darüber war weit geöffnet. Marie überlegte hin und her, beschloss dann aber, sich einen Kaffee aufzugießen.

The cherished things are perishing, and buried in their tomb
There is no hope, no reasoning, this rainy day in June...

Marie stoppte die Musik, weil sie einen Kloß in ihrem Hals spürte. Sie ließ das heiße Wasser im Wasserkocher und das gemahlene Kaffeepulver in der Mühle. Kein Kaffee jetzt. Sie räumte die beiden Teller und die zwei Tassen in den Schrank. Lucia war weg. Sie stellte Felix' Glas in die Spüle. Ihr Handy klopfte.

Lucia: Hej! Bin angekommen. Mama war sogar pünktlich am Bahnhof.
Marie: Das erste Mal in zwanzig Jahren! Gut. Liebe Grüße an alle!
Lucia: Mama grüßt zurück. Sie sagt, du sollst dich auch noch mal blicken lassen. Spätestens zu Renés Hochzeit, oder? Meld mich morgen wieder. Denke, gleich bricht allgemeines Begrüßungschaos aus.

Marie legte das Handy weg und spürte, wie ihr Tränen in die Augen schossen. Sie blinzelte sie weg. Verdammte Scheiße. Als ob. Lucia war weg. Wieder weg. Auch wenn sie jetzt nicht in Brasilien war, sondern nur im Westerwald und demnächst dann in Belgien. Es würde nicht lange so bleiben. Sie kannte ihre Freundin. Spontan würde sie sich irgendwann in nächster Zeit dazu entschließen, eine Forschungsstation in der Antarktis technisch zu betreuen oder das WLAN-Netz in der Mongolei auszubauen. Fuck! Sie war damals so spontan aus London abgereist, dass Marie es kaum hatte realisieren können. Nur sechs Monate in Brasilien, Marie. Ja, klar. Sie hatte es ihr nie gesagt. Sie hatte Lucia gesagt, dass sie sie vermisste, klar. Aber sie hatte ihr nie gesagt, wie sehr sie darunter gelitten hatte, dass sie weg war. Lucia hatte den Kontakt ja gehalten. Aber vielleicht war gerade das das Schlimmste gewesen. Sie war die einzige Freundin gewesen, die ihr geblieben war. Nach der Phase, in der sie alle von sich gestoßen hatte. Lucia war da gewesen. Und eigentlich dann doch nicht. Erst in London, Málaga, Nancy, wieder London, dann in Recife. Freundschaft auf Distanz. Genau wie ihre Beziehung mit ihrem Ex. Vielleicht konnte sie einfach nichts anderes. Vielleicht war sie zu nichts sonst in der Lage, weil sie den Leuten auf die Nerven ging, wenn sie sie regelmäßig oder gar täglich sehen mussten.

„Ah!", stöhnte Marie auf, kniff die Augen zusammen und rieb sich über die Stirn. Aufhören damit. Sie ging ins Badezimmer, wo sie die vom Regen noch immer feuchten Klamotten packte und auf dem Badewannenrand zwischenlagerte, um sich unter die Dusche stellen zu können. In ihrem Kopf rezitierte sie Schillers „Die Teilung der Erde", um ihre Gedanken kurzfristig auszuschalten. Danach rubbelte sie sich gründlich ab, cremte sich ein und zog sich warme Sachen an. Sie nahm die frisch gewaschene Wäsche aus der Waschmaschine, stellte den Wäscheständer im Wohnzimmer vor die Balkontür und hängte alles ordentlich auf. Dann ging sie wieder in die Küche und schnitt sich zwei Scheiben von dem Kartoffelbrot ab. Es war nicht viel übrig. Sie hatte Lucia den Großteil mitgegeben. Das Wasser im Wasserkocher war schnell wieder heiß und Marie goss sich einen Kamillentee auf. Sie bestrich beide Scheiben Brot dünn mit Butter. Auf die eine kam ein Klecks Brombeermarmelade, auf die andere streute sie Salz. Sie hatte keinen Hunger. Aber Appetit auf ein Stück Heimat und Familie.

Strange attraction (Felix Lobrecht FF)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt