38. Elefant

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Elefant

„Wenn es doch wieder schlimmer wird, rufen Sie bitte in der Praxis an", sagte der Arzt,  der erstaunlich jung und erstaunlich gut gelaunt war, als er bereits wieder in der Wohnungstür stand. „Oder ab in die Notaufnahme", fügte er an Felix gewandt hinzu.

„Ja, danke", sagte Felix.

„Danke", schloss Marie sich an.

Der Arzt nickte und verließ die Wohnung.

„Leg mich jetzt erst mal hin", erklärte Felix knapp. „Das Zeug müsste gleich reinhauen. Brauchst du noch..."

„Nein", unterbrach Marie ihn ruhig. „Ich hab alles. Ruh dich aus."

Er nickte und seine Augen sahen sie träge an, bevor er sich umdrehte und verschwand.

Marie atmete langsam ein und aus. Der Schmerz war nur noch dumpf. Sie ging in das Gästezimmer und schloss die Tür hinter sich. Es war gut, dass Felix' Arzt da gewesen war. Er hatte kompetent gewirkt. Felix hatte darauf bestanden, dass sie auch kurz mit ihm redete. Aber bei ihr waren ja keine unerwarteten Verschlimmerungen aufgetreten. Immerhin hatte der Arzt ihnen beiden aber noch Rezepte dagelassen und sie gefragt, ob sie vielleicht eine Krankschreibung bräuchte. Daran hatte sie noch gar nicht gedacht gehabt. Am Donnerstag sollte sie eigentlich wieder in der Bücherei arbeiten. Das war wohl aber gerade noch nicht denkbar. Sie setzte sich an den Tisch am Fenster und schickte einen Scan der AU an ihren Arbeitgeber. Dann schrieb sie noch eine Nachricht an die Zweigstellenleitung. Wieder was erledigt. Vielleicht sollte sie überlegen, was es noch zu tun gab, bevor sie wegen dieser Sache oder ihrer verlängerten Abwesenheit aus Köln noch unangenehme Überraschungen erlebte. Vielleicht sollte sie René irgendwas sagen. Obwohl sie ihre Familie wohl kaum überraschend in Köln besuchen kommen würde. Notfalls könnte sie sie ein wenig anflunkern, wenn sie anriefen. Sie hatte keine Lust auf Mitleid. Oder Schlimmeres. Was hast du denn wieder angestellt, Marie?

Sie schaute auf die Uhr. In Recife war es jetzt früher Vormittag. Vermutlich arbeitete Lucia gerade. Aber Marie wusste, dass sie auf eine Nachricht wartete.

Marie: Hej Lux. Noch mal sorry wegen gestern. Ich bin noch in Berlin. Ist was passiert. Nichts Gutes. Aber ich bin soweit okay und in Sicherheit. Ich weiß, es bringt nichts, wenn ich das schreibe, aber: Mach dir keine Sorgen.

Nicht mal eine halbe Minute später rief Lucia an. „Marie? Was ist denn? Was ist passiert?" Sie klang natürlich besorgt.

„Lucia, hej. Ähm... musst du nicht arbeiten?", fragte sie, um Zeit zu gewinnen. Sie hatte sich die richtigen Worte noch nicht zurechtgelegt.

„Nein", sagte Lucia ruhig. „Ich habe heute Abend einen Außentermin, deswegen fange ich später an. Wir haben Zeit, Marie. Ich habe Zeit."

Marie ließ die Atemluft ruhig in ihre Lungen fließen und wieder hinausströmen. „Ich bin noch in Berlin", begann sie mit dem einfachen Teil. „Es gab... einen Vorfall. Einen... na ja...Überfall. Aber ich bin okay. Soweit." Ihre Stimme wurde leiser, aber sie konnte es nicht verhindern.

„Hujedamej!", sagte Lucia und es war zu hören, dass sie die Luft durch die Zähne stieß. „Marie?", fragte sie langsam. „Ich will dich jetzt sehen, okay?"

Im nächsten Moment tauchte die Anfrage für ein Videogespräch auf Maries Handy auf. Sie schloss kurz die Augen, nahm es dann aber an. Das Bild war zunächst verpixelt, aber dann erkannte sie Lucia vor einer rötlichbraunen Wand, die Haare unter einem Tuch verborgen, wunderschön, wie immer. Marie freute sich für einen Moment, sie wiederzusehen, aber Lucias intensiver, sorgenvoller Blick verursachte bei ihr ein schlechtes Gewissen.

„Okay." Lucia nickte. „Ich bin da, ja? Willst du... kannst du mir erzählen, was passiert ist?"

Marie nickte zögernd. „War in ner Tiefgarage. Vier Typen." Sie schaute nicht auf das Display, sondern an einen Punkt irgendwo dahinter. „Auf Drogen, vermutlich. Total absurd. Einer hatte ne Waffe. Aber ich denke, vielleicht keine echte. Die wollten... ich weiß nicht." Marie hatte auf einmal das dringende Bedürfnis tief einzuatmen. Sie tat es. Der Schmerz überkam sie, war aber irgendwie auch willkommen in dem Moment.

Strange attraction (Felix Lobrecht FF)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt