69. Kritisch

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Kritisch

Marie atmete langsam aus und versuchte, auf die Details zu achten, die sie gut fand. Das Kleid war schön. Sie hatte es sofort schön gefunden, als sie es im Laden entdeckt hatte. Es war erst das dritte Kleid, das sie heute anprobierte. Im zweiten Geschäft. Es war wirklich schön. An und für sich. Aber eben nicht mehr ganz so schön, jetzt, wo sie es anhatte. Aber es passte. Vielleicht könnte der Saum zwei Zentimeter kürzer sein. Aber ihre Mutter war gelernte Schneiderin. Notfalls wäre da also etwas zu machen. Sie drehte sich und schaute über ihre Schulter. Der Stoff fiel locker über ihren Hintern. Nichts war verzogen oder spannte. Das war soweit okay. Sie stellte sich wieder frontal zum Spiegel hin. Die Farbe war gut. Petrol, aber in einer eher hellen Variante, die sie nicht noch blasser wirken ließ. Da waren kleine Blüten in verschiedenen Pastellfarben am Rock. Ein breiter rosafarbener Stoffgürtel mit einer Schleife vorne betonte die Taille, die sie immerhin hatte. Unspektakulärer Rundhalsausschnitt und Ärmel, die gerade lange genug waren, um bei jeder möglichen Bewegung die Narbe an ihrer Schulter zu verdecken. So gesehen perfekt. Das Kleid sah irgendwie ganz natürlich an ihr aus. Sie fühlte sich nicht verkleidet damit. Es war eindeutig eine Reminiszenz an die Fünfziger. Und es hatte Taschen, was natürlich praktisch war. Ach ja, und bequem war es. Marie ließ den Blick noch einmal über die Details schweifen und zwang sich zu lächeln. Auch das Gesamtbild fand sie gar nicht so schlimm. Aber gut, in der Umkleidekabine herrschte auch sicher ein schmeichelndes Licht. Sie zog das Kleid aus, hängte es mitsamt Bügel an den Haken neben dem Spiegel und zog sich Jeans und Shirt wieder an. Einen Moment zögerte sie noch, aber dann holte sie ihr Smartphone heraus und machte ein Foto.

Marie: Hallo Mama, ich suche gerade ein Kleid aus. Was hältst du von dem?

Sie verließ die Umkleidekabine. Im Laden war die einzige Verkäuferin gerade mit einer sicher lohnenderen Kundin in ein Beratungsgespräch vertieft. Es war eine kleine Boutique mit etwas hochwertigeren Sachen für Maries Verhältnisse. Das petrolfarbene Kleid war nicht das einzige im Vintagestil. Die Preise hier riefen kein allzu schlechtes Gewissen bei Marie hervor. Trotzdem würde sie nicht einfach auf gut Glück etwas kaufen, von dem sie nicht überzeugt war. Sie behielt das Kleid in der Hand und schaute sich weiter um. Es klopfte.

Mama: Tolles Kleid! Aber ich müsste es angezogen sehen.
Marie: Es passt. Vielleicht 2 cm zu lang. Aber ist es schick genug oder zu schick?
Mama: Finde es genau richtig für die Hochzeit. Wenn ich was ändern soll, ist das kein Problem. Bin mit den anderen Sachen so gut wie fertig. Brauchst du noch einen Petticoat dazu? Hab mal einen für Nicole genäht. Die Farbe würde sehr gut dazu passen. Kann sie ja mal fragen. Und du hast noch die Pumps vom Tanzen auf dem Speicher hier. Und dazu eine Perlenkette. Zu so einem Kleid passt Omas Perlenkette.

Marie musste beinahe lachen. Wenn es um so etwas ging, behielt ihre Mutter wirklich den Überblick. Sie selbst musste einen Moment überlegen, bis sie sich wieder an die Schuhe erinnerte. Aber es stimmte. Die hatte sie damals für den Tanzkurs gekauft und beim Abiball getragen, von dem sie allerdings frühzeitig verschwunden war. Aber der Kurs vorher war gut gewesen. Unwillkürlich sah sie den Saal in der alten Dorfkneipe vor sich. Cha-cha-cha und Walzer mit Flo. Nicht ganz das, was sie vorher getanzt hatte, aber sie hatten dennoch viel Spaß gehabt.

Ein letztes Mal hielt Marie das Kleid vor sich und schaute es an. Es fiel ihr etwas schwer. Aber sie sagte sich, dass es vielleicht noch mal andere Gelegenheiten geben würde, es zu tragen. Das hier war kein unüberlegter Kauf. Es lag in ihrem Budget. Und sie war damit passend gekleidet. Niemand redete davon, dass sie gut aussehen musste. Selbst wenn sie es nicht schaffen würde, sich von allen Fotos, die auf der Hochzeit gemacht wurden, fernzuhalten, konnte sie ja niemand dazu zwingen, sich diese nachher auch noch anzuschauen. Sie gab sich einen Ruck.

Strange attraction (Felix Lobrecht FF)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt