71. Anknüpfung

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Anknüpfung

Die Leute brachen in Jubel und Lachen aus, als Anne und René die Hochzeitstorte anschnitten. Marie war sich nicht sicher, was da nun bejubelt wurde. Sie war zu selten auf Hochzeiten gewesen. Sie glaubte sich zu erinnern, dass es irgendwas damit zu tun hatte, wie die Hände des Brautpaares auf dem Messergriff lagen. Wie auch immer. Die beiden verteilten die ersten Stücke und die Gäste stürzten sich darauf, so als ob sie sich gerade nicht bereits alle reichlich am Büfett bedient hätten.

„Et Anne is schon jenau de Rischtije für ous René", sagte Oma Christa, während sie zufrieden nickte.

„Na, wär och schlimm, wenn dat anners wär", befand Opa Gerd. „Dann hätte ma ous de Fejer jo spar'n könn'."

„Dann hättste awer keenen Koochen jekrischt", gab Marie zu denken.

„Dat stimmt och werer." Opa Gerd grinste. „Awer noch han ich keen Stück vor ma stoh'n."

„Okay." Marie lachte. „Versteh schon. Ich stell mich mal an, ja?" Sie stand auf und ging Richtung Anne und René, die fleißig Stücke von der Torte schnitten und sie wie am Fließband auf Teller legten. Marie hielt Abstand, als sie sich in die Schlange reihte. Es waren viele Leute da. Sie schaute sich um. Zu viele Leute. Was machte sie hier? Ihr Puls ging schneller, sie musste tief einatmen. Es war laut und voll und... Wie viele Leute waren das? Sie versuchte, sich zu erinnern, ob René eine Zahl genannt hatte. Sie saßen an den Tischen, standen herum und draußen waren sie auch. Sie aßen und rauchten und tranken und lachten. Und es würde im Laufe des Abends noch schlimmer werden. Jetzt war es zumindest noch hell. Durchatmen, Marie. Wie schnell konnte sie zu Hause sein? Durch den Wald wäre sie wohl etwa eine dreiviertel Stunde unterwegs. Sie hatte ihre Sneaker mitgebracht, für alle Fälle. Das dürfte also kein Problem sein. Oder sie könnte sich ein Taxi bestellen. Ruhig, Marie. Sie warf einen Blick zurück zu dem Tisch, an dem ihre Familie saß. Das war doch in Ordnung so. Kein Grund zur Panik. Und kein Grund davonzulaufen. Das waren Leute, die ihr wohlgesonnen waren. Und sie war hier, um eine Hochzeit zu feiern. Verdammt, sie sollte sich zusammenreißen und es zumindest noch ein paar Stunden aushalten. Oma und Opa würden sicher nicht bis spät in die Nacht hier bleiben. Vielleicht könnte sie sich nachher mit den beiden zusammen verabschieden. Sie merkte, wie sich ihr Herzschlag wieder etwas beruhigte. Als sie sich umdrehte, stellte sie fest, dass sie bald dran war.

„Großes oder kleines Stück?", fragte Anne sie mit einem Lächeln. „Schoko oder Karamell?"

„Extra groß und bitte gleich zwei Stücke", sagte Marie. „Sind für Oma und Opa", erklärte sie.

„Na dann Karamell." René grinste und sorgte dafür, dass auf beiden Tellern eine der hübschen Marzipanrosen landete.

Marie balancierte die Teller vor sich her, jeden Menschen umgehend, der ihr im Weg stand. Irgendwas lenkte ihre Aufmerksamkeit in Richtung des weit geöffneten Scheunentores. Sie blieb stehen. Vivi und Katha standen draußen, mit drei, nein vier anderen Leuten, die Marie nur flüchtig kannte. Die beiden sahen anders aus, erwachsener. Am liebsten wäre Marie auf der Stelle unsichtbar geworden. Aber vielleicht war das gar nicht nötig. Vielleicht waren sie inzwischen ohnehin so weit voneinander entfernt, dass es noch nicht einmal irgendeine Auswirkung hatte, wenn sie sich hier begegneten. Marie atmete ruhig aus und zwang sich, weiterzugehen. Wieder am Tisch angekommen stellte sie die Teller mit einem Lächeln vor ihren Großeltern ab und setzte sich wieder. Sitzen bleiben für den Rest des Abends. Das könnte durchaus eine Option sein.


Die Musik war laut, aber nicht so laut, dass man sich nicht mehr unterhalten konnte. Marie war sich wie bei einer Tierbeobachtung vorgekommen, als das Brautpaar den Eröffnungstanz getanzt hatte. Seltsames Ritual. Sie hatte mit René mitgelitten, der zwar früher als DJ aktiv gewesen war, aber mit Standardtänzen so gar nichts am Hut hatte. Es hatte recht steif gewirkt. Aber liebevoll. Und das war wohl das Wichtigste an so einem Tag.

Strange attraction (Felix Lobrecht FF)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt