108. Schwarz-weiß

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Schwarz-weiß

Es fühlte sich beinahe so an, als würde ihr Zwerchfell sich gegen irgendwas wehren wollen. Marie spannte die Bauchmuskeln an, weil sie es nicht riskieren wollte, erneut in ein unkontrolliertes Lachen auszubrechen. Sie wusste, dass das an Hysterie grenzte. Sie saß auf der Couch, die Hände locker im Schoß verschränkt. Einatmen, ausatmen. Felix sagte nichts. Er sagte einfach nichts. Er hatte sich aufgerichtet und sah auf den Bildschirm. Viel zu ruhig, Maries Meinung nach. Viel zu lange. Aber vielleicht waren es auch nur Sekunden. Es war sicher ein Fehler gewesen, das überhaupt zu erwähnen. Sie hätte es ignorieren sollen, auch wenn sie keine Ahnung hatte, wie sie das hätte schaffen sollen.

„Ernsthaft? Das da ist dein Ex, ja?" Felix sah sie endlich an. Er starrte sie an.

Marie schaute zum Fernseher. Da war er. Eindeutig. Keine Ahnung von wann das Video war, aber genau so hatte sie ihn in Erinnerung: konzentrierter Blick mit einer bereits ausgeprägten Zornesfalte, die bei ihm nichts mit Zorn zu tun hatte, der Bart frisch getrimmt offenbar, vermutlich extra für die Aufnahme. Das Sakko war ungewöhnlich. Marie wusste, dass er meistens nur im Hemd zu Terminen an der Uni gegangen war. Sicher hatte er für die Aufzeichnung die Notwendigkeit gesehen, sich entsprechend zu kleiden. Die Haare, glatt und bis auf ein paar wenige graue Strähnen noch dunkel, reichten ihm fast bis zum Kinn. Seine Standardfrisur, an der er jahrelang nichts geändert hatte. Erst jetzt fiel Marie ein kleines Logo am unteren Bildrand auf. LMU München. Dann musste das Video wirklich schon älter sein. Vermutlich waren sie zu der Zeit, als es entstanden war, sogar noch zusammen gewesen. Einatmen, ausatmen.

„Mhm", brachte Marie schließlich zustande. „Das ist er." Sie sah nicht mehr den Felix auf dem Bildschirm. Sie sah ihn vor sich, blickte zu ihm auf in der Mensa, sah ihn am Bahnsteig stehen, ehe sie aus dem Zug ausstieg, sah ihn auf sein Handy schauen, sah ihn stumm nachdenken, sah ihn den Kopf schütteln und sich umdrehen, ehe er im Menschengewirr verschwand. Einatmen, ausatmen. In ihrem Kopf schwirrte es. Sie stand auf und merkte, dass Felix sie anschaute. „Bin gleich wieder da", murmelte sie und verschwand Richtung Badezimmer.

Sie ließ sich das kalte Wasser über die Handgelenke laufen, atmete ein und aus, sah sich im Spiegel an. Sie wartete auf das Chaos, aber da war nur eine pulsierende Leere in ihr drin.

Ein Klopfen an der Tür. „Marie? Komm bitte raus, ja? Oder lass mich rein. Ey, wenn du jetzt ne Panikattacke hast, dann..."

„Mir geht's gut." Sie drehte den Wasserhahn zu.

„Sicher?"

Nein. Sie war selbst noch skeptisch. „Ja."

„Dann mach auf, ja?" Er klang besorgt.

„Es ist alles okay. Gib mir zwei Minuten, ja?"

Ein paar Sekunden herrschte Stille. „Okay. Zwei Minuten."

Sie hörte, wie sich seine Schritte entfernten. Als sie wieder in den Spiegel sah, erkannte sie nichts. Keine geschwollenen Augen, keine unüblich blasse Gesichtsfarbe. Aber sie wusste, dass nicht alles okay war. Sie hatte das alles vor sich hergeschoben. Irgendwann musste sich das rächen.


Zurück im Wohnzimmer stellte sie erleichtert fest, dass Felix den Fernseher ausgeschaltet hatte. Das Bild ihres Exfreundes war allerdings so oder so gerade sehr präsent in ihrem Kopf. Felix stand an der geöffneten Tür zur Dachterrasse, vielleicht hatte er geraucht. „Alles okay?"

„Ja." Sie verdrehte die Augen. „War ne echt seltsame Situation gerade, aber... ja, ist okay." Sie ging auf ihn zu und schlüpfte ohne ihn zu berühren an ihm vorbei auf die Dachterrasse. Ein bisschen frische Luft konnte sicher nicht schaden. Sie schaute in den Himmel, über die Dächer. Einen Herzschlag lang waren es nicht die Dächer von Berlin, sondern die von München. Aber eigentlich erinnerte sie sich kaum an diese Aussicht. Es war eher ein vages Gefühl. Ein Auto hupte. Berlin. Sie war in Berlin. Und ihr war kalt. Als sie sich umdrehte, erschrak sie fast, weil Felix hinter ihr stand. Sie hatte ihn nicht wahrgenommen. Sie senkte den Blick und wollte an ihm vorbei, aber er machte einen Schritt zur Seite und versperrte ihr den Weg. Sie sah ihn an.

Strange attraction (Felix Lobrecht FF)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt