123. Glück

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Glück

Lächeln, Marie, nur ganz leicht, damit er nichts merkt. Aus den Boxen brandeten satte Beats durch den Mercedes. Nicht übermäßig laut, aber immerhin so, dass es eine Wirkung auf Marie entfaltete, auf ihr Herz. Die Beats stießen es an, trieben es voran. Eigentlich konnte sie das gerade nicht gebrauchen. Es war nicht normal, was in ihr vorging. Diese Unruhe in ihr und alles stand unter Spannung, war sensibel. Die Atmung hatte sie noch unter Kontrolle. Einatmen, ausatmen. Seit heute Morgen war das so. Schon beim Aufwachen hatte sie die dunklen Gedanken irgendwie lauern gehört. Es war anstrengend, sie zurückzuhalten, sie aufzuhalten. So anstrengend, dass sie das mit dem Joggen gemacht hatte, dummerweise. Und dann wäre sie fast umgekippt. Super. So als ob sie versuchen würde, ein Feuer zu löschen und dann brach hinter ihrem Rücken ein anderes aus. Depressionsschub oder Kreislaufkollaps, du kannst nicht beides aufhalten, Marie. Vielleicht kam gleich noch eine Panikattacke um die Ecke. Fuck! Einatmen, ausatmen.

„J. Cole, Amari."

Marie schaute zu Felix, aber der nickte nur bestätigend nach einem Blick aufs Display. Letzte Aufwärmübungen für ihn. Er war beschäftigt, auch mit dem recht dichten Nachmittagsverkehr Richtung Innenstadt. Gut so. Marie blickte wieder nach vorne. Sie fuhren gerade ziemlich langsam. Heute Morgen war sie schneller gelaufen. Weggelaufen. Dieser Drang, das zu tun. Früher war das nicht ihre Art gewesen. Eigentlich erst, seit sie aus der Wohnung in München weggelaufen war. Es hatte sie befreit. Und alles verändert. Ob zum Guten oder nicht. Sie wollte sich nicht allem stellen. Nicht den Problemen und manchmal nicht ihren eigenen Gedanken. Und dann vorhin... Lucia. Was sie gesagt hatte, so selbstverständlich. Das war nicht gut. Fuck! Sie konnte das nicht, das alles. Sie war nicht normal. Sie konnte keine normalen Dinge tun. Weil sie nie etwas richtig machte. Fuck! Sie lehnte den Kopf an die Nackenstütze und merkte erst dadurch, wie angespannt ihr gesamter Körper wirklich war. Entspann dich. Leichter gesagt als getan. Und diese verdammte Düsternis, die sie zu überrollen drohte. Aber irgendwie auch typisch. Wenn irgendwas mal gut lief, besonders gut, wenn sie irgendwie Glück oder Zufriedenheit verspürte, kam bald darauf diese Wolke auf sie zugerast, die sie hemmte und alles wieder verdüsterte. Sie hätte es wissen müssen. Und diese verdammten Gedanken. Sie hörte Felix' Stimme, sah zu ihm rüber. Vermutlich hatte er wieder den Songtitel genannt. Keine Ahnung. Marie konnte nicht richtig hinhören. Sie versuchte gerade, nicht auszuflippen. Offenbar schaffte sie es zumindest, dass man es ihr nach außen nicht direkt anmerkte. Aber Felix war ja auch gerade mit etwas anderem beschäftigt. Zum Glück.

Marie saß auf dem Bett. Tränen liefen ihr über die Wangen. Lautlos. Sie fühlte sich absolut erschöpft und leer. Und ohnmächtig. So ohnmächtig. Sie schluchzte nicht, sie schniefte nicht. Aber die Tränen liefen weiter und weiter, nicht sprudelnd, nicht schubartig. Sie rannen einfach, stetig und leise. Felix saß auf dem Sessel. Sie schaute ihn an. Oder eher seinen dunklen Haarschopf, seinen Scheitel, denn er hatte den Kopf gesenkt, war in sein Smartphone vertieft. Sie hatte ihm ihr Herz ausgeschüttet. Ruhig. Sie hatte versucht, sachlich zu bleiben. Er hatte es nicht verstanden. Später würde er sagen, dass er nicht bemerkt hatte, dass sie geweint hatte. Eine Viertelstunde hatte sie weinend vor ihm gesessen und er hatte es einfach nicht wahrgenommen. Er hatte in der Zwischenzeit den nächsten Tag geplant. Es war ihr Urlaub gewesen.

Maries Hals fühlte sich geschwollen und brennend an. Sie schluckte mehrmals, um das Gefühl loszuwerden. Sie griff in ihre Umhängetasche und nahm eine kleine Wasserflasche heraus. Erst mit dem Wasser schaffte sie es, das Brennen verschwinden zu lassen. Und auch die Bilder, die sie überkommen hatten. Sie spürte Felix' Blick auf sich, drehte sich kurz zu ihm, lächelte. Alles gut, versuchte sie zu vermitteln. Er hatte mit alldem ja eh nichts zu tun. Das war einfach ihre verkorkste Vergangenheit, ihr düsteres Seelenleben, das gerade mal wieder durchbrach und ihr Sein fickte. Aber sie wollte es Felix nicht zeigen. Sie lächelte ein bisschen breiter. „Und? Fühlst du dich gut vorbereitet?"

Strange attraction (Felix Lobrecht FF)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt