84. Fotos

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„Siehst du den Mann da hinten?" Felix deutete mit einem Kopfnicken in Richtung der Ampelanlage ein paar Meter rechts vom Eingang des Cafés, vor dem sie saßen. Als Marie seinem Blick folgte, fuhr er fort: „Horst Schmitzke, verwitwet, keine Kinder. Als junger Mann hat er geboxt, war recht erfolgreich, ist aber irgendwie auf die schiefe Bahn geraten und hat im Drogenrausch bei einem Kampf den Ringrichter schwer verletzt. Im Knast hat er Kontakte zur Kölner Mafia geknüpft, bei der er nach seiner Entlassung dann als Buchhalter angefangen hat. Nebenbei hat er erfolgreich in Start-Ups mit Schwerpunkt Nachhaltigkeit investiert. Keiner würde ahnen, dass er inzwischen Millionär ist."

Marie lachte. „Okay. Mafia? Das ist Blödsinn, ja? Wenn, dann war der höchstens Kassenwart beim Karnevalsverein Mülheim."

„Dafür sieht er nicht lustig genug aus", wandte Felix ein.

„Das ist so bei Horst, ja. Aber deshalb hat er sich immer als Clown verkleidet. Vollschminke."

„Ah." Felix nickte langsam und nachdenklich. „Okay, könnte auch passen."

„Mhm. Ähm..." Marie sah, wie Horst Schmitzke, als es Grün geworden war, in der Mitte der Fahrbahn einer Frau begegnete. Grauhaarig, klein, aber mit einer beeindruckend geraden Haltung und einem strammen Gang. Marie bemerkte, dass Felix sie auch im Visier hatte. „Okay", begann sie. „Das da ist Elvira Hahnenkamp. Hat früher als Sekretärin bei 4711 gearbeitet. Ihr Mann, ein Zahnarzt, war ein ziemliches Schwein. Als sie erfahren hat, dass er sie jahrelang mit seiner Sprechstundenhilfe betrogen hat und mit der auch noch zwei Kinder gezeugt hat, obwohl er angeblich keine wollte, hat sie ihn umgebracht. Niemand hatte sie je im Verdacht, denn sie hat es sehr geschickt angestellt und es so aussehen lassen, als sei es ein Unfall gewesen, als er ins Haifischbecken im Kölner Zoo fiel."

„Okay." Felix lachte. „Dit war jetzt'n bisschen too much."

„Denkst du?" Marie sah ihn mit großen Augen an. „Na gut." Sie lachte. „Etwas übertrieben für ne realistische Story. Aber für nen Tatort oder so würde es reichen."

„Stimmt."

Marie atmete aus, trank den letzten Schluck von ihrem Cappuccino und lehnte sich dann zurück. Kurz schaute sie in Richtung der Sonne. Die Markise spendete ihnen nur zum Teil Schatten, weshalb Marie ihre Sonnenbrille trug. Das war ohnehin praktischer, um Leute zu beobachten. Sie tat das sowieso nur sehr vorsichtig, weil sie nicht wollte, dass es jemand bemerkte und sich dann unwohl fühlte. Felix war da etwas skrupelloser. Aber so oder so hatten sie sich in der letzten halben Stunde gut mit ihrem kleinen Spiel beschäftigt.

„Willst du noch was?", fragte Felix.

„Ne." Marie schüttelte den Kopf. „Bin satt und... zufrieden."

„Tapp", sagte er grinsend.

„Hm?"

Er seufzte. „War mal größenwahnsinnig und dachte, ick könnte endlich mal ein Wort einführen fürs Nicht-mehr-durstig-sein. Turns out: Nope! Irgendwie funktioniert dit wohl doch nich so einfach."

„Wie jetzt?" Marie sah ihn stirnrunzelnd an. „Hast du das an die Dudenredaktion geschickt oder wie?"

„Ne, halt nur im Podcast so. Wollte es von unten nach oben durchdrücken. Aber wird's wohl nich über nen Status als Hacki-Insider hinausschaffen."

„Oh", machte Marie mitleidig. „Wie war das? Tatt?"

„Tapp."

„Okay. Also... ich bin satt und tapp und zufrieden, danke."

„Hm." Er nickte. „Kannst es ja vielleicht in dein nächstes Buch einbauen. Wäre ne Marketingstrategie, damit das Wort sich doch noch durchsetzt."

„Äh, ja. Ich überleg's mir." Sie ließ ihren Blick erneut schweifen, aber nicht um Menschen zu entdecken. Dieser Stadtteil hier war ihr fremd. Felix war hergefahren, über den Rhein, in eine Gegend, die er durch Tommi kannte. Für Marie war das jetzt mitten in der Stadt, obwohl sie durchaus so viel Orientierungssinn besaß, um zu wissen, dass sie eben nicht in der eigentlichen Innenstadt waren, sondern nördlich davon. Es war okay hier, belebter und dichter bebaut als bei ihr im Viertel, aber dennoch nicht so schlimm. Das Café war zu einem Drittel besetzt. Meist alte Leute, die sich auf ein Stück Kuchen am Sonntagnachmittag trafen. Die Gefahr, hier einem Fan zu begegnen, war von daher schon relativ gering.

Strange attraction (Felix Lobrecht FF)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt