16. Kater

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Kater

Marie stand auf und reckte sich. Beinahe geräuschlos zog sie den Rollladen hoch. Der Wecker, den sie heute nicht hatte stellen müssen, zeigte halb zehn. So lange hatte sie ewig nicht mehr geschlafen. Aber es war ja auch eine etwas unruhige Nacht gewesen. Nachdem sie im Bad gewesen war, warf sie einen Blick ins Wohnzimmer. Ihr Übernachtungsgast schlief noch und schnarchte leise. Sie schloss die Tür. Eigentlich hatte sie heute an ihrem Roman arbeiten wollen, aber sie konnte sich wohl schlecht neben den ausdünstenden Felix an den Schreibtisch setzen. Vielleicht musste sie trotzdem nicht allzu leise sein. War ja nicht ihr Problem, dass er einen Rausch ausschlafen musste. Sie zog sich an und ging in die Küche. Immerhin war es noch früh genug...

Marie hörte ein vertrautes Klopfen und schaute auf ihr Smartphone.

Hanna: Moin. Schon ne Idee fürs Geschenk für René und Anne?
Marie: Moin, Schwesterherz. Die beiden haben sich gerade erst verlobt. Ist doch noch Zeit.
Hanna: Jaja, dachte nur, falls du ne Idee hast.
Marie: Dann meld ich mich.

Sie schüttelte den Kopf. Manchmal war ihre Schwester übereifrig. Marie suchte nach der richtigen Musik und stellte die Bluetooth-Box in einer angemessenen Zimmerlautstärke ein. Dann begann sie Brot zu backen.

Twenty-five years and my life is still
Trying to get up that great big hill of hope...

Marie knetete den Teig. Der säuerliche Geruch stieg ihr in die Nase und versetzte sie in die Zeiten zurück, die sie in einer Backstube verbracht hatte. Mit dem Fahrrad ins nächste Dorf, vor der Morgendämmerung. Und dann die Wärme des Backofens und Birgit, die sie immer mit einem Lächeln begrüßte, egal wie früh es war. Wie schlimm der Abend zuvor auch gewesen war, nach einem Morgen in der Backstube hatte Marie sich immer besser gefühlt. Sie dachte an ihren Gast im Wohnzimmer, der seinen Rausch ausschlief. Sie seufzte. Jedenfalls hatten sie die glasigen Augen heute Nacht nicht so verwirrt wie der intensive Blick vor ein paar Wochen. Nein, Marie war kuriert. Gefahr gebannt.

Sing with me, if it's just for today
Maybe tomorrow, the good Lord will take you away...

Der Teig musste noch einmal gehen. Marie fragte sich, was sie als Nächstes machen könnte. Einkaufen gehen wollte sie nicht. Es war ohnehin alles da und sie wollte Felix nicht alleine in der Wohnung zurücklassen. Hausputz war aber auch keine gute Idee, vor allem wenn es ihren laut röhrenden Staubsauger involvierte. Wäsche zusammenlegen? Gute Idee. Der Wäschekorb stand im Schlafzimmer. Sie holte ihn, setzte sich an den Küchentisch und legte los.

Looks like we're in for nasty weather,
One eye is taken for an eye...

Ha! Das war's! So würden ihre Protagonisten zu ihrer Rache kommen. Marie warf die restlichen Socken in den Wäschekorb zurück, ging ins Schlafzimmer und war froh, ihr Notizbuch auf dem Nachttisch zu finden. Sie schrieb sich gerne Ideen und mögliche Handlungsstränge handschriftlich auf, oft überkam sie eine Lösung für ein storytechnisches Problem in der Bahn oder auf der Arbeit. Deswegen hatte sie ihr Notizbuch immer griffbereit. Sie schrieb los und eines kam zum anderen. Zeitabläufe wurden skizziert, nötige Charaktere aufgelistet, Handlungsorte gefunden. Sie hatte zwei Drittel ihres Romans ohnehin fertig, aber da hatte noch eine Lücke geklafft in ihrer Planung. Die füllte sich gerade wie von selbst. Zwischendurch musste Marie sich von ihren Notizen losreißen. Sie kümmerte sich um den Teig und schob schließlich den geformten Teigling in den Backofen.

And all the light had disappeared and faded in the gloom,
There was no hope, no reasoning, this rainy day in June

„Also rainy stimmt ja, aber es ist gerade mal Februar, oder hab ick nen kompletten Filmriss?"

Marie fasste sich erschrocken ans Herz und drehte sich um. „Mann!"

„Morgen." Felix stand, mit in den Hosentaschen versteckten Händen, lässig gegen den Türrahmen gelehnt da. Seine Haare waren ein Chaos, die Augen geschwollen, das ganze Gesicht irgendwie aufgedunsen.

Strange attraction (Felix Lobrecht FF)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt