42. Relativität

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Relativität

„Ich mach mal nen Podcast an, ja? Mir ist gerade nicht nach Musik."

„Ja, klar", sagte Marie. Felix fuhr, also bestimmte ohnehin er, was lief. So lange ihr die Ohren nicht bluteten, hatte sie nicht vor, sich zu beschweren. Und eigentlich war ihr ein Podcast momentan auch lieber. Bei Musik neigte sie dazu, entweder mitsingen - gerade im Auto - oder sich in irgendeiner Form bewegen zu wollen. Beides sollte sie momentan besser nicht tun. Sie schaute nach rechts. Zwischen den LKW, die sie gerade überholten, war eine flache Landschaft mit Äckern und Wiesen zu erkennen. Eine Herde Schwarzbunter weidete in der Ferne. Der Podcast startete. Marie kannte ihn nicht. In englischer Sprache, mit einem ausgeprägten amerikanischen Akzent, stellte der Host seinen Gast vor. Marie wandte den Blick nach vorne und hörte eine Weile genauer hin. Offenbar ging es um Zukunftsforschung. Ein paar halbgare Witze darüber, dass das nichts mit Wahrsagerei zu tun habe. Dann folgte ein kurzer Abriss der Geschichte der Zukunftsforschung. Maries Aufmerksamkeit wurde abgelenkt, weil sich auf der gegenüberliegenden Fahrbahn blau blinkende Lichter näherten. Schließlich war ein Polizeifahrzeug zu erkennen. Maries Blick folgte ihm wie von selbst. Die Sirene wurde lauter, dann verschwand das Fahrzeug irgendwo hinter ihnen. Kurz fokussierte Marie Felix' Profil. Er schaute konzentriert auf die Fahrbahn, saß aber relativ lässig da. Sie wandte den Blick wieder ab. Es war noch immer zu erkennen. Mehr als deutlich. Sie hatte sich daran gewöhnt, aber die Verfärbungen seines Gesichts rund um Nase und Augen waren eben nicht zu übersehen. Weder für Marie noch für andere. Und sie selbst sah ja nicht besser aus. Aber die Schwellungen waren zurückgegangen und laut seiner Aussage hatte er keine Schmerzen mehr. Nur das Atmen war nach wie vor ein Problem. Er war noch mal bei seinem Hausarzt gewesen deswegen und dann bei einem Experten in irgendeinem Ärztehaus. Aber er war danach eher frustriert gewesen, was Marie verstehen konnte. Schließlich hatte er schon lange mit ähnlichen Problemen zu tun.

Felix räusperte sich. Marie schaute kurz zu ihm, aber er sagte nichts. Sie hatten eine Menge geschwiegen in der Zeit, in der sie bei ihm zu Gast gewesen war. Mit der Zeit war sie besser damit klargekommen, sein Schweigen einfach auszuhalten, ohne das Bedürfnis zu haben, es durch eine Frage beenden zu müssen. Zwischendurch war ihr immer wieder der Gedanke gekommen, dass sie der Grund für sein Verhalten sein könnte. Dass er irgendwie die Nase voll hatte von ihr. Dass er seine Einladung bereute. Dass sie ihn störte. Aber diese Vermutung hatte nie wirklich lange vorgehalten. Als sie vorgeschlagen hatte, dass sie abreisen könnte, hatte er sie nur verwundert angeschaut und gefragt, ob sie denn so dringend wieder nach Köln müsse. Wenn sie im Gästezimmer geblieben war, um ein Buch zu lesen, weil sie dachte, es sei vielleicht ganz gut, wenn er Raum und Zeit für sich hätte, hatte er irgendwann immer an die Tür geklopft und sie herübergebeten. Auf einen Kaffee oder was auch immer. Es war ihr manchmal wie ein Vorwand vorgekommen. Sie hatten einen ganzen Nachmittag zusammen auf dem Sofa verbracht, beide lesend. Marie hatte fast den Eindruck gehabt, dass er nicht allein sein wollte. Dass es ihm vielleicht reichte, wenn jemand da war, auch wenn er dann dennoch kaum redete.

Sie schaute aus dem Seitenfenster. Eine Kleinstadt in der Ebene. Dahinter riss der Himmel auf. Vermutlich würde es doch noch ein einigermaßen schöner Tag werden. Marie nahm eine Bewegung in den Wolken wahr. Ein Vogel näherte sich der Autobahn. Ein Bussard, der vielleicht darauf hoffte, dass ihm eines der Autos das Jagen erleichterte. Marie glaubte, ein vertrautes Geräusch gehört zu haben. Sie kramte in ihrer Tasche, die auf ihrem Schoß lag. Richtig gehört. Lucia hatte ihr, wie jeden Tag seit jenem Vorfall, eine Nachricht geschickt. "Kontroll-WhatsApp", hatte Marie ihr gegenüber das scherzhaft genannt. Es war ungewöhnlich für Lucia, dass sie sich offenbar so sehr sorgte. Aber vielleicht hing es auch irgendwie mit der baldigen Heimkehr zusammen. Oder damit, dass sie neugierig war.

Lucia: Hej, alles klar?
Marie: Ja. Sind auf dem Weg nach Köln.

Sie sperrte den Bildschirm, behielt das Handy aber in der Hand, während sie sich wieder auf den Podcast konzentrierte. Neue Modelle des sozialen Miteinanders. Irgendwann kam erneut eine Nachricht.

Strange attraction (Felix Lobrecht FF)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt