65. Lieb

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Lieb

Marie stellte die Schüssel mit Taboulé in den Kühlschrank. Für ihr morgiges Mittagessen war damit alles vorbereitet. Sie wischte die Arbeitsplatte ab und schaute sich um. Alles sauber. Kurz war sie versucht, noch einmal auf ihr Handy zu schauen. Aber das brachte ja nichts. Felix hatte geschrieben, dass es später werden würde, weil er noch Essen gegangen war. Eigentlich war es gut so, denn so musste sie nicht von ihrer Routine abweichen. Die hatte ihr heute gutgetan. Kochen, Wäsche falten, Radio hören. Oder in diesem Fall die Aufzeichnung von Felix' Sendung, die doch etwas speziell gewesen war. Sie war wieder angekommen im Arbeitsalltag. Alles war ruhig verlaufen heute in der Bücherei, alles hatte funktioniert. Gestern, als sie im Verlag gewesen war, hatte sie schon geglaubt, die Nachwehen der Panikattacke dieses Mal gut im Griff zu haben. Es war ja auch gut gelaufen. Aber danach, als sie alleine gewesen war, hatte sie eben gemerkt, dass es ihr noch nachhing und naheging. Im Grunde wusste sie das. Nach einer Attacke brauchte sie Ablenkung. Und manchmal konnte sie sich alleine nicht genügend ablenken. Lucia hatte ihr früher schon mal geholfen, indem sie sie kurzerhand zu einem Kinoabend abgeholt hatte. Dass Felix gestern geblieben war, obwohl sie ihn nicht darum gebeten hatte, war die richtige Entscheidung gewesen. Seine Entscheidung. Ihre wäre es gewesen, allein zu sein. So, wie sie es gewohnt war. So, wie sie es gelernt hatte, als sie ein einziges Mal darum gebeten hatte, nicht alleine zu sein. Damals hatte sie nachts eine Panikattacke gehabt, nachdem sie auf dem Weg nach Hause Zeugin eines Unfalls gewesen war. Sie hatte ihrem Freund am Morgen geschrieben und ihm gesagt, wie es ihr ging. Und dass sie froh darüber war, dass er am Abend da sein würde. Aber er war nicht gekommen. Er hatte ihr geschrieben, dass er nicht wüsste, wie er damit umgehen sollte und dass sie sicher besser wüsste, was zu tun sei. Später hatte er sich über ihre Krankheit informiert und mit ihr darüber gesprochen. Sachlich, strukturiert, interessiert, wie es eben seine Art war. Aber er hatte ihr auch klargemacht, dass er ihr nicht helfen konnte und dass sie bereits den richtigen Weg einer Therapie eingeschlagen hatte. Sie hatte versucht, ihm zu erklären, dass es nicht darum ging. Dass es einfach gut gewesen wäre, wenn er dennoch gekommen wäre, damit sie nicht alleine war. Aber er hatte darin keinen Sinn gesehen.

Marie schüttelte sich. Sie merkte, wie sich ihr Hals zuschnürte. Besser nicht an ihn denken. All die Jahre... Stopp! Durchatmen. Es war vorbei. Sie nahm sich ihr Wasserglas und ging hinüber ins Wohnzimmer, öffnete die Balkontür und setzte sich auf die Couch, nachdem sie ein Buch aus dem Regal genommen hatte. Kein neues Buch, sondern eines ihrer Lieblingsbücher: Der Teufel von Mailand von Suter. Sie lächelte voller Vorfreude. Sie wusste gar nicht, was sie sich eher wünschen sollte: Dass Felix sich weiter verspätete und sie so große Teile des Buchs lesen konnte, oder dass er bald klingeln würde. Egal wie – der Abend würde gut werden. Und alleine über diesen optimistischen Gedanken freute sie sich schon wieder. Es war gut. Es war besser.

Felix Lobrecht: Ist jetzt echt spät geworden, also für dich. Bin aber gleich da. Kann ich noch vorbeikommen?
Marie: Klar. Bin noch wach.

Lächelnd nahm sie wieder das Buch zur Hand, zog die Wolldecke über ihre Beine und las weiter. Auch wenn der Inhalt etwas Unheimliches, sogar leicht Bedrohliches an sich hatte, verspürte Marie wie bei jedem erneuten Lesen den Wunsch, irgendwann mal in die Berge zu fahren, wo die Geschichte spielte. Allerdings würde sie wohl nie den Wellnessbereich eines Hotels dort aufsuchen wollen.

Marie  war gerade so sehr vertieft in das Buch gewesen, dass sie wie aus einer Trance hochschreckte, als es an der Wohnungstür klopfte. Sie stand auf, eilte auf Socken in den Flur und öffnete die Tür mit einem Lächeln. „Hey!"

Als Felix sie sah, wandelte sich sein irgendwie müder und vielleicht eine Spur unsicherer Gesichtsausdruck ebenfalls in ein Lächeln. „Hey." Er kam rein, schloss die Tür hinter sich und legte einen Stoffbeutel auf das Schränkchen. „Na, dir geht's wohl besser, wa?"

Strange attraction (Felix Lobrecht FF)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt