87. Murmel

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Murmel


Ihre Waden fingen an zu brennen, weil sie viel zu schnell unterwegs war. Am liebsten wäre Marie gerannt, einfach, weil sie schnell nach Hause wollte. Aber stattdessen zwang sie sich nach der halben Strecke das Tempo zu drosseln. Alles gut, ob du jetzt hier draußen bist oder drin, ist doch auch egal. Atme durch. Genieße den Kölner Smog noch ein wenig. Warum war sie nur so blöd, so dermaßen unfähig, auch nur irgendwie am normalen Leben teilzunehmen?

Ihr Herz pochte, aber das war okay, das hastige Gehen hatte ihren Puls in die Höhe getrieben. Sie merkte erst, dass sie auf den Boden starrte, als sie nur aus den Augenwinkeln eine Person an sich vorbeirauschen sah. Sie erschrak etwas und hob den Kopf, um keine weiteren Überraschungen zu erleben. Ja, Kopf hoch, Marie, Kopf hoch und durchatmen. Ihre Schritte wurden langsamer, dafür größer. Sie hatte es versucht, oder? Und es war echt nicht so gut gelaufen. Fuck, ihr war fast schwarz vor Augen geworden. Es war echt beschissen gewesen. Und doch war sie da gewesen, geblieben. Eigentlich also doch immerhin ein Fortschritt. Und dann... Felix. Fuck! Was dachte er jetzt von ihr? Das wüsste sie wirklich gern. Allerdings war er ja dann doch recht direkt gewesen. Und ehrlich. Vielleicht ja zum ersten Mal. Das dürfte schon seine wahre Meinung über sie gewesen sein. Wie auch immer. Er hatte ja recht. Oder? Kein Plan. Vielleicht verstand sie ihn auch einfach zu schlecht. Schriftliche Kommunikation hatte ja so ihre Tücken.

Marie war erleichtert, als sie das Haus vor sich erkannte. Langsam wurde es zu dunkel, als dass sie sich draußen noch wohl gefühlt hätte. Na gut, bei Tageslicht hätte sie sich auch nicht wesentlich wohler gefühlt.

Im Hausflur stieg sie die ersten Stufen hinauf und musste sich daran erinnern, den Kopf zu heben. Nicht, dass ihr jemand begegnete. Sie hätte damals auf ihren Instinkt hören sollen. Einfach weg. Sie hätte nie Kontakt aufnehmen dürfen. Immer, wenn sie versuchte, das Leben zu imitieren, scheiterte sie. Es ging einfach nicht.

So schnell wie möglich streifte sie in der Wohnung alles ab und ging ins Bad und unter die Dusche. Sie duschte heiß. Ihre Muskeln entspannten sich nur langsam. Wie kann man nur so lost sein? Ja, gute Frage. Aber vielleicht sollte sie das Wort noch mal nachschlagen. Ganz sicher war sie sich bei solchen Jugendsprachtrends nie. Nur, dass es nichts Positives war, war ihr klar. Und dann... Ich bin raus. Ja, gut, dann tschüs. Marie wusch sich die Haare. Wo raus denn genau? Aus der Unterhaltung? Nein, irgendwie klang das umfassender. Klar, raus aus den Kontakten, raus aus der wie auch immer gearteten Beziehung, die sie zueinander hatten. Gehabt hatten. Freundschaft war es wohl kaum gewesen, wenn es jetzt so schnell wieder vorbei war. Jedenfalls keine Freundschaft nach Maries Idealen. Aber vielleicht nach seinen. Für viele begannen Freundschaften ja schon, wenn man eine Person traf und sich einigermaßen gut mit ihr verstand. Dann noch eine Nummer ausgetauscht und zweimal getextet und schon war man befreundet. Aber für Marie waren Freundschaften nie so gewesen. Da gehörte schon etwas mehr dazu.

Sie stieg aus der Dusche und zog sich an. Warm. Sie holte sogar noch ihren Bademantel aus dem Schrank. Ihr Magen knurrte. Kein Wunder. Vor Aufregung hatte sie heute den ganzen Tag nicht wirklich was runterbekommen. Der Zucchini-Nudelsalat, den sie in der Küche im Stehen aß, weil sie zu unruhig war, um sich hinzusetzen, war naturgemäß kalt. Dementsprechend war ihr danach ebenso. Marie machte Milch in einem Topf warm, gab zerkleinerte Zartbitterschokolade, gemahlene Chilis und Ingwer dazu. Vermutlich würde ihr Magen das nicht gut finden, aber der hatte heute schon ganz andere, üble Gefühle überstanden. Sie ging mit der heißen Tasse ins Wohnzimmer, stellte sie auf dem Beistelltisch ab und setzte sich aufs Sofa. Eine Weile starrte sie an die Decke und atmete durch. Alles echt beschissen. Aber das war sie ja gewohnt. Sie stand wieder auf und holte ihr Handy aus der Tasche im Flur. Die anderen Nachrichten hatte sie vorhin einfach ignoriert. Sie sah sie kurz an, aber es war nichts Dringendes dabei. Kurz überlegte sie, ob sie Lucia anschreiben sollte, aber die hatte heute sicher auch Besseres zu tun. Vermutlich war sie unterwegs. Marie stellte die Verbindung zur Lautsprecher-Box her und wählte eine Playlist aus, die hauptsächlich aus Alanis Morissette, Gossip und Garbage bestand, schaltete aber gleichzeitig alle Benachrichtigungen lautlos. Sicher war sicher. Sie würde heute, so wie es aussah, spät ins Bett gehen und morgen dann einfach lange schlafen.

Strange attraction (Felix Lobrecht FF)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt