5.14: "Ying und Yang"

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Am sonnigen Horizont, auf einer weiten, grünen und hügeligen Wiese, steht ein großer Eichenbaum, an dem zwei bunte Rahmen von einem kleinen Kirchenfenster hängen. Einmal links und einmal rechts. Das bunte Glas - welches in allen Farben durch die warme Sonne erstrahlt wird - baumelt wie ein Glockenspiel im kühlen Wind an den Klippen von Nighthowl Bay.

Ryder und Sandrine sitzen im Truck, während der Sektenführer seine Augen nicht mehr von dem wunderschönen Baum, welcher von dicken Blättern bestückt ist, abwenden kann.

Die beiden befinden sich weiter runter an der Ostküste der Stadt, an einem riesigen Klippengelände, was unvergesslich schön aussieht. Noch nie zuvor war Sandrine an diesem Ort, obwohl sie in der Stadt aufgewachsen ist.

"Es ist wunderschön, nicht wahr?", fragt Ryder seine ehemalige Gefangene in einem ruhigen Ton, welcher für den ruchlosen Sektenführer unüblich ist.
Sandrine sieht die bunten Fensterrahmen im Licht reflektieren und öffnet leicht ihren Mund.
"Wieso wolltest du mir diesen Ort zeigen?"
Ryder dreht sich zu seiner Beifahrerrin und zeigt auf den weiten Horizont, an dem sich nichts weiter als blaues Meer erstreckt.
"Hier habe ich meine Verlobte kennengelernt. Wir lebten beide nicht in Nighthowl Bay, wir kamen aus anderen Orten. Wir kannten uns nicht, aber das Schicksal hat uns zu diesem Baum geführt. Ich nahm mir eine Auszeit von meinen schwierigen Eltern und sie war hier um die Natur von Maine zu fotografieren. Fotos zu machen und die Schönheit der Natur einzufangen, war ihre Leidenschaft. Als ich sie ansprach, weil sie so einsam auf dieser weiten Wiese saß und fragte wieso sie so alleine hier sitzt, antwortete sie dass sie denkt so würde der Himmel aussehen. Das Paradies. Wie dieser Ort. Stille, Licht und Frieden.", erklärt Ryder Sandrine die Bedeutung dieses Ortes und öffnet die Fahrertür des Trucks.

Er steigt aus und geht auf die Wiese zu. Sandrine runzelt ihre Stirn.
"Hey! Warte!", ruft sie und steigt ebenfalls aus dem Auto aus. Ryder steht nun auf der Wiese und atmet gelassen ein. Sandrine erreicht ihn und stellt sich fragend neben ihn. Als er ausatmet öffnet er seine Augen und wirft Sandrine einen glücklichen Blick zu.
"Du hast eine Verlobte?", fragt Sandrine ihn und ist verwundert, da sie noch nie zuvor etwas von ihr gehört hat.

Ryder senkt seinen Kopf und geht näher auf den Baum zu.
"Ich hatte eine. Ihr Name war Luzia. Die schönste Frau auf der Welt. Naja, wir waren jung. Trotzdem hatten wir uns verlobt.", antwortet er ihr und öffnet den Reißverschluss seiner Lederjacke. Sie öffnet sich und weht sofort sanft in der kühlen Brise der Klippen.
"Hat sie dich verlassen?", fragt Sandrine und kann sich ein schadenfrohes Lächeln nicht verkneifen.
"Sie ist tot. Depressionen. Nicht jeder Mensch kann so stark sein wie ich.", grummelt seine Stimme nun wieder etwas düsterer über das Feld. Der Gedanke an Luzias Tod versetzt Ryder immernoch in eine tief verankerte Wut.
"So stark wie du? Du wolltest dich umbringen?", hört Sandrine sofort aus der Aussage des Sektenführers und scheint überrascht.

Er nickt und dreht sich halb zu ihr hin. Seine Silhouette wird hell von der Sonne angestrahlt. Die eine Hälfte seines Gesicht's ist hell und die andere dunkel.

"Luzia glaubte an Gott. Sie sagte mir wir würden uns im Himmel wiederfinden, sie dachte dieser Gedanke schenkt mir Trost.", erklärt er Sandrine direkt. Sie geht langsam auf ihn zu und hört ihm gespannt zu.
"Ich war nie religiös. Ich...ich habe mich dazu gezwungen zu glauben. Ich wollte es glauben, ich meine ich kann doch kein Leben ohne sie führen. Schon erst recht keine Ewigkeit. Aber...ich habe gesündigt. Nach Luzias Tod wurde meine Seele schwarz. Langsam brach die Herzfinsternis über mich herein. Du weißt was ich getan habe. Und ich weiß was du getan hast.", fährt er fort und schaut Sandrine nun gänzlich an.
"Es gibt eine alte Tafel. Sie nennt sich 'das Wort Gottes'.", offenbart er ihr.
Sandrine lässt sich nicht ein bisschen anmerken, aber erinnert sich sofort an das Gespräch mit Sapphyre, welches sie eben hatte. In dem ebenfalls das Wort Gottes erwähnt wurde.

Die beiden stehen sich gegenüber, im Schatten des Baumes und im Schutze des Windes, während die Sonne munter auf die beiden gegnerischen Parteien strahlt.

"Dieses uralte Artefakt befindet sich im Hollow. Jakob sagte es mir.", merkt er an. Sandrine möchte etwas sagen, aber Ryder hebt seine Hand.
"Nein, keine Lügen. Ich weiß es.
Und ich gebe dir hier - im Angesicht Gottes - das letzte Mal die Chance friedlich aus der Sache rauszukommen. Niemand wird sterben."

"Ihr gebt mir das Wort und Akrasia wird aus Nighthowl Bay abziehen. Wenn ich das Wort habe, ist die Welt wieder im Gleichgewicht. Scheiße, ich will nicht einen Haufen von Kindern töten. Aber ich werde es, wenn ich muss.", legt Ryder seinen Standpunkt nun komplett dar und sieht den kalten Gesichtsausdruck von Sandrine genau.

"Was ist mit Jakob? Werden er und Sapphyre mit dir gehen?", fragt Sandrine und eine einzige Augenbraue von ihr beginnt zu zittern. Ryder zuckt mit seinen Schultern und verzieht seine Mine etwas.
"Jakob wollte dich retten. Er glaubt - genau wie ich - dass ein Mord nicht ungeschehen gemacht werden kann. Denkst du er hätte all' eure Freunde verraten, nur weil du ihm egal bist? Eben nicht. Du bist ihn so wichtig, dass er selbst seinen besten Freund hintergangen hat. Nur um dich zu retten.", versucht Ryder ihr logisch klar zu machen, was Jakob für sie empfindet.
"Er hat mich verlassen. Drei Monate haben mich deine Leute festgehalten. Von einem Verlies in's Nächste. Du weißt nicht wie ich bin, oder wie ich war. Aber ganz ehrlich, ein Lügner bist du nicht. Ich glaube dir.", gesteht sie ihm, trotz ihres unendlich großen Hasses auf seine Sekte.

Er lächelt und geht etwas in die Hocke.

"Verdammt, du hast gelernt. Ich bin ein rechtschaffender Kerl.", lacht er etwas und freut sich über die Erkenntnis der Black.
"Was jetzt?", fragt sie und verschränkt ihre Arme.
"Jetzt entscheidest du. Du warst der Anfang und du wirst das Ende sein. Morgen, um genau zweiundzwanzig Uhr - kurz vor Sonnenuntergang, werden wir hier sein. Jakob, Sapphyre, Jerome und alle anderen. Wir werden Euch erwarten. Die ganze Gruppe, niemand soll fehlen.
Entweder ihr habt das Artefakt dabei, oder eben nicht."

"Habt ihr es dabei, gehen wir in Frieden. Habt ihr es nicht dabei, werdet ihr sterben. Jeder einzelne von Euch.", erklärt Ryder ihr den Deal. Sandrine beginnt selbstbewusst zu grinsen und nickt amüsiert.
"Und wenn wir nicht kommen?", grinst sie ihn an.

Ryders Mundwinkel verziehen sich nach unten und er geht drei Schritte auf sie zu.

"Dann werden wir jede einzelne Person, die auf den Straßen dieser Stadt rumläuft, jagen und töten. Ich werde die Leiche deiner Schwester ausbuddlen und ihre Knochen meinen Hunden zum fressen vorwerfen.", flüstert er leise und grinst nun ebenfalls. Er überspielt die Dunkelheit in ihm nun nicht mehr mit Humor. Er zeigt sein wahres Gesicht. Wie aus Trauer ein Monster wurde.

Sandrine antwortet nicht und reißt still ihre Augen auf.

"Wir sehen uns.", zwinkert Ryder ihr zu und geht an ihr vorbei, zurück in Richtung Truck. Sandrine bleibt alleine auf der großen Wiese stehen, im Wissen was der Stadt - und ihren Freunden - nun bevorsteht...

NIGHTHOWL BAY - HerzfinsternisWo Geschichten leben. Entdecke jetzt