60. Zerrissene Ketten

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Unruhig ließ Karis den Blick durch die Zelle wandern. Die Zeit verging träge, seit er in diesem Verließ hing und er hatte keine Ahnung, wie lange er sich bereits unter der Stadtfestung Belatonas befand. Seine Muskeln waren steif von der unnatürlichen Position seiner Arme und auch die Wunde an seiner rechten Schulter hatte inzwischen aufgehört zu bluten und war verkrustet. Lediglich ein stumpfes Pochen von Zeit zu Zeit erinnerte ihn noch daran, dass sie da war. 
Er konnte nicht einfach darauf warten, dass die beiden Jungdrachen schlüpfen würden. Zwar bezweifelte der Schattenläufer ohnehin, dass seine bloße Anwesenheit beruhigend genug auf die beiden Eier wirken würde, dass die Küken schlüpfen würden, aber das Risiko war er nicht bereit einzugehen. Sollten Sereths Junge wider Erwarten doch hier das Licht der Welt erblicken, dann würden sie durch die Hölle gehen müssen. Karis konnte sich lebhaft vorstellen, was der Schattenelf mit den beiden vorhatte. Bei dem Bild, das sich vor seinem inneren Auge abzeichnete, brodelte lodernder Hass in ihm auf. Er hatte schon einmal mitansehen müssen wie dieser rothaarige Bastard an einem Drachenküken herum experimentiert hatte. 
Das würde er unter keinen Umständen zulassen. Doch bis jetzt waren seine Bemühungen einen Ausweg aus seinem Verlies zu finden nicht vom Erfolg gekrönt gewesen. Die Ketten waren massiv und zweifellos mit Zaubern verstärkt. Außerdem unterbanden sie Karis Fähigkeit, seinen Geist auszusenden, was zusammen mit den Drogen, die seine Gedanken vernebelten, wirkungsvoll verhinderte, dass er Magie wirkte. Egal ob es sich dabei um die alte Sprache oder seine Astrallevitation handelte. 
Daher blieb dem Halbschatten nur eine Methode ohne Magie um sich zu befreien. Unter normalen Umständen wäre das kein großes Problem für ihn gewesen. Anders als sein Lehrmeister hatte Karis begriffen, dass er sich bei ihrem Katz- und Mausspiel nicht ausschließlich auf seine magischen Fähigkeiten verlassen durfte. Ecros war ein sehr alter Schatten. Was die Magie anging hatte er ihm mehrere Jahrhunderte Erfahrung voraus. Ein Vorsprung, der sich nicht so ohne weiteres aufholen ließ, egal wie sehr er sich auch anstrengte. 
Daher hatte Karis sich bemüht diese Lücke mit Wissen aus Bereichen zu füllen, die der Schattenelf vernachlässigt hatte.
Zum Beispiel dem Schlösserknacken. Bei einem Einbruch, in einem verlassenen Labor seines ehemaligen Lehrmeisters hatte der Schattenläufer gelernt, dass dieser seine Habseligkeiten hauptsächlich in Truhen aufbewahrte, die er zwar vor nahezu jeder magischen Manipulation geschützt hatte, aber die bürgerliche Methode sie aufzubrechen hatte er schlichtweg ignoriert. Vermutlich war ihm auch einfach Gedanke absurd erschienen, dass ein normaler Mensch es wagen würde in eine seiner Behausungen einzubrechen oder, dass ein Magier, der darin herum stöberte, fähig wäre ein Schloss auf die althergebrachte Art und Weise zu knacken. Mit einem Grinsen dachte Karis daran, wie er das erste Mal eine der Hinterlassenschaften seines alten Lehrmeisters gestohlen hatte. Damals war er noch ebenso kurzsichtig gewesen. 
Nächtelang hatte er nach einer Möglichkeit gesucht sie magisch zu öffnen, ohne eine der Fallen zu aktivieren, die darin eingebettet waren, bevor er verstanden hatte, dass er sie ganz einfach mittels einer Nadel aufbekam. 
Doch so erheiternd diese Erinnerung auch war, in seiner derzeitigen Lage half sie ihm nicht viel. Der Schattenelf war gründlich gewesen. Jede einzelne seiner versteckten Waffen und Artefakte hatte er aufgespürt und ihm abgenommen. Sogar die im Stoff seiner Beinkleider eingewobenen Nadeln hatte er entdeckt. Karis hatte nichts mit dem er die Schlösser an seinen Handgelenken hätte knacken können. Frustriert nahm er die Beobachtung des Raumes wieder auf und ließ seinen Blick herumwandern, während er noch einmal seine Alternativen abwog.
Er könnte seine Handgelenke ausrenken, oder sich ein guten Teil seiner Haut und des darunter liegenden rohen Fleisches abschaben, umso aus den Handfesseln zu gleiten.  Das hatte er schon öfter gemacht. Einen Moment lang dachte er über diese Möglichkeit nach. Wenn man die Umstände betrachtete, schien es wirklich die einzige Wahl zu sein. Der Schmerz war aufgrund seiner jahrelangen Erfahrungen mit Ecros vernachlässigbar und nachdem er sich befreit hatte, wäre es auch kein Problem mehr sich zu heilen. Doch als er die Handfessel, die sein Handgelenk umschlang genauer betrachtete, wurde ihm klar, dass er diese Idee aufgeben musste. Die Fessel war zu eng. Der dunkelgraue Stahl schmiegte sich beinahe nahtlos an seine Haut und ließ ihm zu wenig Spielraum um seine Hand herauszuwinden, egal wie viele Knochen er sich brach, oder wie sehr er sich Haut und Fleisch aufschürfte. 
Ein lautloser Fluch stieg in seiner Kehle auf. Das war eigentlich klar gewesen. Ecros kannte den anatomischen Aufbau seines Körpers zu gut. Er wusste genau, wie er ihn fesseln musste, um ihm keine Möglichkeit zu geben so einfach aus den Handschellen zu gleiten. Immerhin war er es gewesen, der den ursprünglichen Körper des Schattenläufers solange verändert hatte, bis er seinen Ansprüchen genügte.
Frustriert folgte er dem Verlauf der Ketten mit den Augen. Es war einfach zum aus der Haut fahren. Alles was er im Moment tun konnte schien in der Tat, Warten zu sein. Etwas was dem Drachenreiter überhaupt nicht lag. Er war es nicht gewohnt hilflos zu sein. Bisher hatte er noch immer einen Ausweg gefunden und er weigerte sich ausgerechnet in dieser Situation aufzugeben. 
Mit neuem Elan ließ er seinen Blick wieder durch den Raum schweifen. Beinahe nebenbei kam er dabei auf dem Ring zum Liegen, mit dem die Ketten an der Decke befestigt waren und der den Schattenläufer einen Meter über dem Boden in der Luft hängen ließ.   Als er ihn näher betrachtete, kam ihm auf einmal eine Idee.  Ein Plan begann in ihm zu keimen, während er nachdenklich dem Verlauf des Metalls mit den Augen folgte. Mit einer ruckartigen Bewegung umfasste er die Ketten, die ihn in der Höhe hielten und zog sich nach oben. Eine dünne Staubschicht begann von der Decke zu rieseln und verfing sich in seinen ohnehin nebelgrauen Haaren, während er sich mit angespannten Muskeln nach oben bewegte. Die Wunde an seiner Schulter begann zu pochen und ein kleines Rinnsal Blut begann aus der verkrusteten Öffnung zu fließen, doch er beachtete es nicht.
Immer weiter  kletterte er, bis er direkt an dem kleinen Metallring hing und die Ketten an denen er sich empor gezogen hatte, locker rechts und links von seinen Händen baumelten. Kurz hielt er inne um wieder zu Atem zu kommen, bevor er begann die Beine hin und her zu schwingen, bis er es schaffte sich einmal um sich selbst zu drehen und seine Füße gegen die Decke zu stemmen. 
Mit vollem Körpereinsatz begann er an dem Metallring zu ziehen, der die Fesseln mit der Decke verband. Bei seiner Betrachtung hatte er festgestellt, dass sowohl die Handschellen, als auch die Ketten und die Befestigung in dem Grauen Gestein massiv und mit Magie verstärkt waren, doch das Gestein, in dem Sie eingelassen waren, war etwas brüchig. Karis Vorhaben zielte darauf ab, das lose Gestein zu seinem Vorteil zu nutzen und die Befestigung mitsamt dem darunter liegenden Fels aus der Decke zu reißen. 
Doch trotz des Staubes, der von der Verankerung rieselte, weigerte das Gewölbe sich nachzugeben. Karis knirschte mit den Zähnen. Dann blieb ihm nur noch eine Wahl. Abrupt ließ er die um seine Unterarme gespannten Ketten los. Sofort stürzte er in die Tiefe. Die Ketten klirrten wild, als er hinab segelte, bis sie sich kurz bevor er auf dem Boden aufkam, abrupt anspannten. Ein schmerzerfülltes Stöhnen entwich dem Drachenreiter, als seine Fesseln sich in sein Fleisch schnitten und seine Schultergelenke durch den abrupt gestoppten Absturz beinahe auskugelten. 
Wären seine Sehnen und Muskeln nicht deutlich dicker als bei gewöhnlichen Menschen oder Elfen, hätte er sich ernsthaft verletzt.
Doch der Schmerz wich in den Hintergrund, als Sereths Seelengefährte ein Knirschen vernahm. Ruckartig hob er den Kopf und sah, wie sich mit einem trockenen Knirschen, der Steinblock löste, an dem die Fesseln befestigt waren. Die Spannung wich von den Ketten und der Reiter sank zu Boden, nur um sich gleich darauf zur Seite zu werfen, um nicht von dem Stein erwischt zu werden, der knapp nach ihm von der Decke fiel. 
Mit einem lauten Krachen, schlug er auf dem Boden auf und zerbarst in dutzende kleinere Teile. Karis hielt sich schützend die Hand vor die Augen, da Gesteinssplitter einen genauso gut wie Pfeilspitzen erblinden lassen konnten. Als die aufgewirbelte Staubschicht sich wieder gelegt hatte, erhob sich der Schattenläufer und trat auf die Überreste des Steins zu. Die Blutung an seiner Schulter war aufgrund seines Absturzes wieder stärker geworden, doch das beachtete er nicht. Stattdessen begann er in dem Geröllhaufen zu wühlen, bis er die Halterung der Ketten gefunden hatte. Sie steckte in einem etwa faustgroßen ovalen Stein, mit scharfen Kanten. 
Zufrieden betrachtete der Schattenläufer das Ergebnis seiner Bemühungen. Dieser kleine Stein würde ihn bei seiner Flucht kaum behindern. Jetzt musste er nur noch so etwas wie einen Sack oder Beutel finden, mit dem er die beiden Dracheneier transportieren konnte, dann konnte er fliehen. 
Doch gerade, als er sich nach einem passenden Stück Stoff umsehen wollte, erklang ein Geräusch. Entfernt erinnerte es den Reiter an das Knirschen, mit dem der Stein aus der Decke gebrochen war, doch dieses war wesentlich leiser.
Erschrocken hob er den Kopf und fuhr zu den beiden Eiern herum, die immer noch in der ihm gegenüberliegenden Ecke des Raumes lagen. Zu seinem Entsetzen musste er feststellen, dass das dunkelblaue Ei, mit den zarten weißen Verästelungen begonnen hatte, sich zu rühren. Erneut war ein feines Knacksen zu hören und das EI schaukelte sacht hin und her. Mit zwei schnellen Schritten war Karis neben den ungeborenen Küken. 
Das durfte doch nicht wahr sein. Jetzt war der denkbar ungünstigste Zeitpunkt für die beiden um zu schlüpfen. 
„Bitte bleib da drinnen. Du darfst noch nicht herauskommen.“, murmelte er immer wieder, während er beschwörend die Hände an die Seiten des Eis legte. Doch das Küken hörte nicht auf ihn. Dünne Risse zogen sich über die Schale und ein leises Fiepen war aus dem Inneren zu hören. Dann brach die Schale auf. 
Blauweiße Schalenstückchen rieselten von Karis Händen zu Boden, während das kleine Drachenjunge sich schnurrend in seinen Händen streckte. 
Völlig entgeistert starrte Karis auf das Küken. „Warum gerade jetzt?“, fragte er sich ungläubig, während das Küken, welches sich bei näherem Hinsehen als Mädchen entpuppte, begann die klebrigen Reste der Schale von ihren Schuppen zu lecken. Sereths Tochter würde seine Flucht enorm behindern. Zwar wäre es auch mit den beiden Eiern schwierig geworden, ungesehen aus der Festung zu gelangen, aber immerhin wäre es möglich gewesen. Ein Jungdrache jedoch, auf den man gleichzeitig achten und den man beschützen musste, würde dieses Unterfangen nahezu unmöglich machen. 
Vor sich hin grübelnd, verlagerte der Schattenläufer sein Gewicht und setzte sich erst einmal im Schneidersitz auf den Boden. 
Mit dieser Geste, erlangte er die Aufmerksamkeit der jungen Drachendame, die jetzt zum ersten Mal bewusst ihre Umgebung wahrzunehmen schien. Mit einem fragenden Fiepen stemmte das Küken seine Pfoten an seinem Brustkorb ab und blickte ihn aus meerblauen Augen ins Gesicht. Unwillkürlich musste Sereths Reiter lächeln, als er den Blick erwiderte. Eigentlich war das kleine Wesen wirklich niedlich. Seine blauen Schuppen waren etwas dunkler, als die ihrer Mutter, aber jede einzelne war von einem leuchtend weißen Rand umgeben, dass sie aussah als ob jeden Moment ein strahlendes Licht aus ihrem Inneren hervorbrechen würde.
Auch die winzigen Hörner auf ihrer Stirn wurden zu den Spitzen hin immer heller, bis sie in einem makellosen weiß glänzten. 
Lediglich ihre Augen waren durchgängig dunkelblau. Neugierig funkelten sie den Reiter ihres Vaters an. Mit einem schmerzlichen Lächeln strich er ihr sanft über den Rücken. Sein Seelengefährte hatte diese Geste, als er noch so klein war immer geliebt und auch seine Tochter schnurrte genießerisch. Trotz der Schönheit des Augenblicks kam Karis nicht umhin bitter festzustellen, dass die Kleine in seinen Armen, ebenso wie ihr Vater, in Ecros Schatten das Licht der Welt erblickte. Aber sie würde nicht dieselben Narben davon tragen, wie sein Seelengefährte. Mit plötzlicher Entschlossenheit erhob sich der Schattenläufer. Egal was es ihn kosten würde. 

Der Weiße SchattenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt