81. Kampf und Unbedachtheit

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Sereth konnte ihn förmlich schmecken. Den Blutdurst der Menschen, Zwerge und Urgals die unter ihm um die Beherrschung einzelner Mauerteile stritten. Ihre Stimmen vermischten sich mit dem schneidenden Wind, der durch die Schluchten und über die Hänge des Helgrinds pfiff und erzeugte einen Laut, der seine Seele in Wallung versetzte.
Es war ein guter Tag für eine Schlacht, entschied er. Die Sonne brach sich auf seinen Schuppen, der Wind hob ihn beinahe mühelos in die Höhe und seine Muskeln brannten vor Kampfeslust. Er stieß ein lautes Brüllen aus, das von den beiden Drachen, die rechts und links neben ihm flogen erwidert wurde. Sie konnten es kaum erwarten ihre Klauen und Zähne in die geflügelte Brut zu schlagen, die diese Stadt ihr Eigen nannten.
Knurrend betrachtete der weiße Riese die schwarzen Hänge vor ihnen, die dieser Madenbrut als Heimat diente. Sie hatten sich lange genug an den Zweibeinern gelabt, es war an der Zeit ihre Existenz, die wie ein Geschwür in den Adern Alagaesias wucherte zu beenden.
Ein schrilles Kreischen beantwortete die Herausforderung der Drachen und ihrer Reiter und fachte die Kampfeslust in dem weißen Riesen noch weiter an. Der Wind nahm den widerwärtigen Gestank der aasfressenden Madenbrut an, die sich von den Gipfeln ihrer Berge-spitz-Fels-wie-Glas-Heimat, zu ihnen herabschwang und Sereth konnte das Bedürfnis ihnen die Klauen ins Fleisch zu rammen nur schwer unterdrücken.
Ihr, den Chimären viel zu ähnlicher, Geruch erinnerte ihn an schlimme Zeiten, die noch heute wie düstere Schatten auf der Seele seines Reiters lagen. Sein, in eine metallene Kugel gehüllter Schweif hob sich schlagbereit an, begierig darauf seine Feinde einfach zu zerschmettern, doch er musste sich beherrschen. Mit kräftigen Flügelschlägen schwang er sich empor und der stinkenden Madenbrut entgegen.
Dorn und Saphira folgten ihm.
Sie durften nicht angreifen, solange ihre Schutzzauber noch aktiv waren. Nicht nur, dass das eine Verschwendung ihrer Kraft gewesen wäre, es würde auch unter den Einwohnern Dras Leonas zu zahlreichen Opfern führen, die sie alle bemüht waren, zu vermeiden. Ehe sie sich getrennt hatten, hatte der weiße Drache seinem Reiter zugestimmt, dass körperliche Gewalt nur einzusetzen war, wenn es nicht anders ging. Darum lösten die drei Drachen, kurz bevor sie mit den Lethrblaka zusammenstießen ihre Formation auf. Ihre Gegner kreischten verblüfft, als sie an ihnen vorbeirauschten und verdrehten sich die Hälse, bei dem Versuch ihre Feinde im Blick zu behalten. Sereth schnaubte verächtlich. „Unerfahrene Küken!", dachte er spöttisch. „Ihre Körper sind zu groß für ihre Gedanken!"
Das hatte er bereits in den Erinnerungen seiner Artgenossen erkannt. Ihre Gegner mochten über die Fähigkeiten ausgewachsener Exemplare ihrer Art verfügen, aber ihre Geister waren die von gerade einmal ein paar Monate alten Küken.
Zu früh aus ihrer Kindheit gerissen und in eine Form gezwungen die dem Drachenmörder gefiel. Hätten sie nicht ihre Schutzzauber wäre jeder von Serets Artgenossen mehr als in der Lage gewesen die sechs alleine zu zerfetzen.
Die Drachen nahmen wieder Position ein. Dorn, Saphira und ihre Reiter flogen jeweils rechts und links über ihm und behielten ihre Feinde genau im Blick, die ungelenk in der Luft wendeten, bis sie wieder vor ihnen schwebten. Doch dieses Mal griffen sie nicht an. Fünf der geflügelten Scheusale flatterten vor ihnen mit den Flügeln um auf der Stelle zu schweben, während sich eines von ihnen in den Vordergrund drängte. Es war das größte von ihnen und Sereth konnte aus dem Augenwinkel erkennen, wie Dorn die Kreatur zornig musterte. Das war anscheinend das Ungetüm, das seinen ehemaligen Schüler beinahe getötet hätte. Doch mehr Gedanken konnte er an den anderen Drachen nicht verwenden.
Wie fauliger Geruch, breitete sich die Stimme des Lethrblakas am Himmel aus. „Sssieh an ein neuer Wurm ist aus der Erde gekrochen um sich den Herrschern dieser Weidegründe als Opfer darzubieten." Ein hohles Keckern erscholl aus der Kehle der Kreatur. „Naja, wenigssstens isst an dir ein bissschen mehr Fleisssch dran, alsss an den anderen beiden Viechern." Zischende Laute kamen aus den Kehlen seiner Artgenossen und verrieten, dass die Kreaturen lachten. Für gewöhnlich hätte Sereth den Worten des Lethrblaka keine Aufmerksamkeit geschenkt.
Er war ein Drache, ein Herrscher des Himmels und Feuers. Seinesgleichen löste seine Auseinandersetzungen nicht mit Worten, sondern mit Zähnen und Klauen. Er konnte spüren, wie sein Blut schneller durch seine Adern floss und nach einem Kampf verlangte und aus dem leises Knurren, dass seine Artgenossen ausstießen, konnte er erkennen, dass es ihnen ähnlich ging. Sie alle brannten darauf diese Madenbrut vom Himmel zu brennen. Doch das konnten sie nicht. Sie mussten sich in Geduld üben. Zumindest vorerst. Darum antwortete Karis Seelengefährte ungerührt, den Ring auf einem seiner Hörner nutzend: „Ich bin keineswegs hier um euch als Nahrung zu dienen."
Damit warf er seine Gegner, die noch nie einen Drachenstimme gehört hatten, sichtlich aus der Bahn. Einige der Lethrblaka gerieten sogar für einen Moment so aus dem Takt ihrer Flügelschläge, dass sie ein paar Meter absackten, ehe sie sich wieder fangen konnten. „Ich bin hier um euch die Flügel auszureißen und euer Blut über die Dächer der Stadt unter uns zu verteilen."
Für einen Moment herrschte Stille am Himmel, dann brachen die Lethrblaka in schrilles Gekreisch aus. Die fünf kleineren der Kreaturen rissen drohend ihre Schnäbel auf, ihr Augen blitzten mordlüstern und Sereth rechnete schon damit, dass sie sofort angreifen würden, doch ein scharfes Klacken des Schnabels ihres Anführers ließ sie innehalten. „Ssstarke Worte, " zischelte es herausfordernd. „Aber wie kommssst du darauf, dasss esss diesssmal anders enden wird?" Sereths Antwort war ein scharfes Brüllen, bevor er schneller als die Lethrblaka reagieren konnten seinen Geist aussandte. Ein scharfer Wind pfiff plötzlich durch die Mitte der Elterntiere der Razac, riss ihre Flügelschläge aus dem Takt und sprengte sie auseinander. Sie verloren das Gleichgewicht in der Luft und während einige durch unkoordinierte Flügelschläge aufstiegen, sanken andere hilflos ab. Genau darauf hatte der weiße Drache gehofft. Seine Gegner mochte vor körperlichen Angriffen geschützt sein, ebenso wie vor den meisten Anwendungen der Magie, doch einer Beeinflussung ihrer Umgebung waren sie anscheinend schutzlos ausgeliefert.
Solange er sie nicht dahingehend beeinflusste ihnen direkten Schaden zuzufügen, löste das ihre Schutzzauber nicht aus. Wenn sein kleiner Schatten wie sonst auf seinem Rücken sitzen würde, wäre das ganze allerdings wesentlich leichter. Sein Reiter war schlichtweg geübter in der Anwendung der Astrallevitation, da er diese Kunst unter normalen Umständen bei einem Kampf nur ungern anwendete. Immerhin war er ein Herrscher des Feuers und des Himmels. Solche Methoden passten schlichtweg nicht zu ihm.
Doch in Anbetracht der Umstände hatte er keine Wahl. Der Wolfkatzenelf, der heute ausnahmsweise auf seinem Rücken saß, war kein Ersatz für seinen Reiter. Zwar verfügte er über einen ähnlich großen Wortschatz in der alten Sprache, als Spitzohr vielleicht sogar über einen größeren, aber er besaß keinerlei Kenntnisse über die Fähigkeiten der beiden Seelenbrüder, die sie aus ihren Erfahrungen mit den Geistern erworben hatten. Deshalb musste der weiße Drache diesen Teil ihres Kampfes ebenfalls übernehmen um die Abwesenheit seines Reiters überzeugend zu verschleiern und die geflügelte Madenbrut des Helgrinds ausreichend auf Trab zu halten, um ihnen ihre ganze Aufmerksamkeit zu schenken.
Denn mit jeder verstrichenen Minute erhöhte sich die Chance, dass Sereths kleiner Schatten und seine Tochter, die in diesem Moment die Umgebung um die Kathedrale der Stadt erkundeten, den Ursprung des Zaubers fanden.
Zwar hatte der weiße Riese keine Ahnung, ob diese Täuschung funktionieren würde, vor allem, da der in Lichtschleier gehüllte Elf weder wie sein Seelengefährte roch, noch sich seine Gedanken so anfühlten, aber er hoffte es. Zwar hätte er die Wahrscheinlichkeit mit der seine Gegner seinen Reiter erkennen würden noch verringern können, wenn er seine Feinde einfach so heftig und wild angegriffen hätte wie er konnte und ihnen so gar nicht die Möglichkeit gegeben hätte die Gestalt auf seinem Rücken genauer zu mustern, aber in Anbetracht der Geiseln, die diese feige Madenbrut als Schutzschilde benutzte, konnte er das nicht.
Deshalb hatte ihre ursprüngliche Angriffstaktik vorausgesehen, dass sie sich damit begnügen würden auf Abstand zu bleiben und den Lethrblaka auszuweichen. Und dabei war die Astrallevitation nun einmal ein notwendiger Bestandteil. Zwar sagte diese Kampftaktik keinem der drei Drachen wirklich zu, aber Saphira, Dorn und er hatten die Notwendigkeit dahinter erkannt. Darum teilten sich die drei Drachen erneut auf und warfen sich getrennt ins Getümmel. Dorn stürzte zwischen zwei der abgesackten Scheusale und schlug dabei heftig mit den Flügeln.
Die dadurch erzeugte Veränderung der Luftströme warf seine Gegner auf den Rücken und sie kreischten verwirrt auf, als sie plötzlich auf dem Rücken flogen, bevor sie sich wieder fingen. Saphira schlängelte sich zwischen ihren Gegner hindurch, bot ihnen die verwundbare Unterseite ihres Bauches als Ziel und erntete dafür erbostes Zischen.
Die zwei ledergeflügelten Ungetüme stürzten sich auf sie, mit dem festen Vorsatz ihr ihre Schnäbel ins Fleisch zu bohren, aber die Drachendame wich mit der ihr eigenen Eleganz aus und ihre Gegner mussten heftig mit den Flügeln schlagen um nicht zusammenzustoßen. Sereth jedoch tat weder das eine noch das andere. Seine Gegner hatten in etwa die Größe von Dorn und Saphira, was ihm einen erheblichen Größenvorteil verschaffte, den er gekonnt ausnutzte.
Er stürzte sich laut brüllend auf das größte der Scheusale. Anscheinend hatte es auch ihn als Opfer auserkoren, denn es begegnete seiner Herausforderung erhobenen Hauptes und mit dem Selbstbewusstsein eines unzweifelhaften Gewinners. Ein Resultat ihres ersten Sieges gegen seine Artgenossen. „Törichte Küken!", grollte der weiße Riese innerlich. „Man sollte sich nie zu sicher sein, der Jäger zu sein, wenn man seine Beute nicht kennt." Kurz bevor sie zusammenstießen, bremste der Drache abrupt ab, sein kräftiger Körper bog sich nach hinten und er schlug heftig mit den Flügeln. Durch den Schwung entstand ein Luftstoß, der seinen Gegner auf den Rücken warf und ihn zurückschleuderte, ohne ihm Schaden zuzufügen.
Und bevor es sich wieder aufrichten konnte, war Sereth über ihm. Gehässig versetzte er seinem Gegner einen Tritt, nicht zu stark um auf die Schutzzauber zu wirken, aber doch kräftig genug um das geflügelte Untier in die Tiefe trudeln zu lassen.
Kurz schnaubte er, unsicher, ob er damit nicht doch einen der Einwohner Dras Leonas verletzt hatte, aber als das Lethrblaka sich wieder zu ihm emporschwang verflog diese Angst. Er drehte sich um die eigene Achse, nutzte dabei das Gewicht an seinem Schweif als Ansatz für seine Kraft und stürzte sich in einer Spirale in die Tiefe. Normalerweise hätte er in so einer Situation seinen Schweif noch genutzt um seinem Gegner einen mächtigen Hieb in den Bauch zu versetzen, doch im Moment sah er davon ab. Noch musste er sich zurückhalten um die nichtkämpfenden Zweibeiner in der Stadt unter ihm nicht zu verletzen.
Keine leichte Aufgabe bei einem so heißblütigen Volk wie den Drachen.
Einmal mehr verfluchte er die feige-wie-Ratten-Priester, als er mit dem Lethrblaka zusammenstieß. Die Kreatur schnappte mit dem Schnabel nach seinem Gesicht und entblößte dabei komplett ihren verwundbaren Hals. Er musste sich beherrschen um der Kreatur nicht die Zähne ins Fleisch zu graben und sich damit zu begnügen sie einfach von sich fernzuhalten. Seine Artgenossen hatten mit ähnlichen Schwierigkeiten zu kämpfen. Saphira, die zu seiner Überraschung sogar von drei geflügelten Gegnern angegriffen wurde, blutete bereits aus mehreren kleineren Wunden. Er hatte eigentlich gedacht, dass sie sich hauptsächlich auf ihn konzentrieren würden, aber anscheinend hatten sie entschieden der Gewandtheit der Drachendame mit zahlenmäßiger Überlegenheit zu begegnen. Eine Strategie der Sereth grimmig knurrend Anerkennung zollen musste, während die Hufen des Lethrblaka in seinem Griff, gegen seinen Bauch trommelten. Die geflügelten Ratten hatten tatsächlich aus ihrem letzten Kampf gelernt. Denn auch Dorn war mit einer neuen Situation konfrontiert.
Seine Gegner sausten immerzu um ihn herum und stießen auf ihn herab um ihn langsam müde zu machen. Das war eine langwierige Strategie die anscheinend dazu ausgelegt war, ihm nicht zu gestatten seine kräftemäßige Überlegenheit auszuspielen. Zwar zog das den Kampf etwas in die Länge, was ihren Zielen entgegenkam, doch leider nagte das auch an der Geduld des roten Drachen und wie Sereth an dessen grimmig zuckender Schwanzspitze erkennen konnte, war er drauf und dran ihren Plan einfach über Bord zu werfen und seinen Angreifern an die Gurgel zu gehen.
Er stieß das sich heftig in seinem Griff windende Lethrblaka von sich und glitt auf seinen ehemaligen Schüler zu.
Mit einem Brüllen forderte er die Aufmerksamkeit seines roten Artgenossen und riss das Maul auf. Dorn verstand sofort. Zeitgleich entließen die beiden Drachen eine Flammenzunge aus ihren Mäulern. Der Himmel erstrahlte für einen Moment in Rot und Weiß, ehe die Flammen aufeinandertrafen und sich vermischten. Das Feuer verschmolz zu einem zartrötlichen Ton, ehe es die Angreifer des kleineren Drachen in ein Nebelgespinst hüllte. Das Manöver funktionierte genauso gut wie in der Schlacht über Belatona. Orientierungslos kreischend versuchten die Elterntiere der Razac sich aus der weißen Masse zu befreien, doch für den Moment waren sie ungefährlich. Dorn nutzte den Moment um an die Seite seines ehemaligen Lehrmeisters zu gleiten und die Lage zu überblicken.
Saphira war noch immer in Bedrängnis, es war nur eine Frage der Zeit bis die beiden Aasfresser ihren Weg aus der Dampfwolke finden würden und der Größte ihrer Gegner kam bereits angeschossen um sich auf sie zu werfen. Es sah nicht wirklich gut für die drei Drachen aus. Wenn Karis sich nicht beeilte, würde ihnen nichts anderes übrig als anzufangen tödliche Gewalt zu benutzen..


Ungemütlich!

Das war das einzige Wort mit dem Karis seine gegenwärtige Position beschreiben konnte. Von Illeanis mächtigen Klauen umschlossen hing er förmlich in der Luft. Er war das Fliegen zwar gewohnt, aber ohne einen festen Drachenkörper unter sich, war die Erfahrung in der Luft zu hängen doch etwas worauf er hätte verzichten können. Zugegeben, Illeani war eine wilde Drachendame und daher war es bereits ein enormes Zugeständnis ihrerseits, dass sie ihn überhaupt trug, trotzdem gefiel dem Drachenreiter dieser Teil ihres Plans überhaupt nicht. Die Stadt unter ihnen war von Zahlreichen Soldaten erfüllt, auf den Mauer, den Hausdächern und den Gassen tummelten sich die Bogenschützen, die nur darauf zu warten schienen, dass einer der Drachen sich leichtsinnigerweise tief genug herabsinken ließ um das Feuer auf ihn zu eröffnen. Zwar waren Illeani und er von zahlreichen Zaubern verhüllt und er glaubte auch nicht, dass die Soldaten ähnlich wie Ecros Chimären in der Lage sein würden sie zu erkennen, aber trotzdem war der Anblick der vielen Pfeilspitzen alles andere als beruhigend.
„Selbst schuld!", schalt er sich innerlich, als Illeani sich in die Kurve legte um an einem Turm vorbeizugleiten und dabei fast seine Beine gegen den festen Stein schlug. „Du konntest dir ja keinen besseren Plan ausdenken." „Siehst du schon irgendwas?", fragte das Drachenmädchen, das nichts von seiner unbequemen Lage mitzubekommen schien, während es über die Häuser dahinsegelte. Aufregung und Anspannung lagen in ihrer Stimme und ein plötzlicher Ruck in ihren Krallen verriet Karis, dass sie gerade wieder nach oben gesehen hatte, wo die Schlacht zwischen ihren Eltern und den Lethrblaka tobte. Es juckte ihr in den Krallen mitzukämpfen. Und dummerweise befand sich Karis in besagten Klauen.
Schon mehrmals hatte ihr Griff sich plötzlich gelockert, wenn sie aufgeregt beobachtete hatte, wie ihre Artgenossen einem Angriff ausgewichen waren und nur ein beherzter Griff im letzten Moment hatte verhindert, dass ihr der Reiter ihres Vaters entglitten wäre. Dass der plötzlich verstärkte Griff ihm jedes Mal die Luft aus den Lungen presste und ihn so aus seiner Konzentration riss, schien sie gar nicht zu bemerken.
Das machte seine Aufgabe natürlich nicht gerade einfacher. Das Problem bei der Aufgabe, die er innehatte war, dass der Energietransfer der Priester des Helgrinds alles andere als einfach aufzuspüren war. Ecros Magie wahrzunehmen, als er das letzte Mal in dem Berg gewesen war, war verglichen dazu einfach gewesen. Er kannte den Schattenelfen schon seit ungefähr 100 Jahren. Seine Magie und Aura waren ihm so vertraut wie die Form von Sereths Schuppen. Doch die Kraft der Priester, die in dieser Stadt schon seit Jahrhunderten ihre archaische und widerwärtige Magie wirkten, war ihm nicht so bekannt. Das Gespinst an magischen Energien, die die Kathedrale und einzelne Bauten der Stadt umschlossen, brachten ihn durcheinander und erschwerten es ihm den einzelnen richtigen Faden aufzuspüren, der ihn zu den Blutopfer-Wahnsinnigen, wie Sereth sie nannte, führen würde.
Er studierte zahllose bunt flackernde Energieströme, während Illeani zusehends ungeduldiger wurde. Ein subtiles Grollen entkam ihrer Kehle. „Wie lange dauert das denn noch?", knurrte sie gereizt. „Ich will auch endlich kämpfen." Frustriert tauchte Karis aus der Trance auf, in die er ähnlich wie ein Elf in seine Wachträume eintauchte, wenn er sein Astalauge für einen längeren Zeitraum nutzte, doch bevor er ihr die schnippische Antwort, die ihm auf der Zunge lag um die Ohren schlagen konnte, sah er etwas aus dem Augenwinkel aufblitzen. Abrupt warf er den Kopf herum. Sofort erkannte er, dass das der Energiestrom war, den er gesucht hatte. Die in seinen Augen losen Fäden glühten in einem zarten violett. Sie stiegen steil von dem Dach eines Gebäudes neben der Kathedrale auf. Mit einem schnellen Gedankenwechsel, bat der Schattenläufer das junge Drachenmädchen sich dorthin zu begeben.
Flügelschlagend kam sie seiner Bitte nach. Auf den ersten Blick unterschied nichts das Haus von den anderen Gebäuden in der Straße. Von der Nähe zur Kathedrale einmal abgesehen war es genauso ein heruntergekommenes Gemäuer wie die meisten Behausungen Dras Leonas, da die Priester das meiste ihres nicht unbeträchtlichen Wohlstands für die Anbetung ihrer Götter und die Schmückung ihrer religiösen Bauten verwendeten.
Doch als Karis das von magischen Fäden umwölkte Haus aus der Nähe betrachtete, musste er sie korrigieren.
Es gab Unterschiede zu den benachbarten Bauten. In den Dachziegeln war in unregelmäßigen Abständen kleine violette Edelsteine eingegraben worden. Auch die zwei steinernen Statuen vor der Tür, hatten solche Edelsteine als Augen. Die steinernen Gebilde wurden jeweils von zwei Soldaten flankiert, die mit grimmigen Augen die Straße hinabblickten. Und das waren nur die sichtbaren Unterschiede. Was den Schattenläufer endgültig von der Richtigkeit seiner Annahme überzeugte, waren die gewaltigen Energieströme, die sich gigantischen Steinandern gleich durch das Erdreich zogen und scih unter dem Gebäude zu bündeln schienen.
„Ist es das?", riss Illeanis ungestüme Frage aus der Betrachtung des Gemäuers. Die ganze Kampfeslust der jungen Drachendame klang in diesen drei Worten mit und noch ehe der Reiter ihr antworten konnte, stürzte sie sich schon hinab. Ihr brennendes Blut wollte kämpfen und ließ sich nicht mehr unterdrücken. Zu lange hatte sie Artgenossen von sich mit den Ungeheuern des Helgrind ringen sehen und jetzt wollte auch sie beweisen, dass sie eine Tochter des Himmels und Feuers war. Den Zweibeiner in ihren Klauen hatte sie dabei völlig vergessen. Karis jedoch gelang glücklicherweise, trotz seiner unangenehmen Lage, einen kühlen Kopf zu bewahren.
Es war das eingetreten was er befürchtet hatte. Das brennende Blut des Drachenvolkes hatte in dem jungen Drachenmädchen die Oberhand gewonnen. Anders als die Reiterdrachen waren wilde Vertreter ihrer Art wesentlich ursprünglicher in ihrem Denken. Sereths Tochter folgte gerade nur ihren Instinkten und für den Schattenläufer gab es keine Möglichkeit sie daraus aufzuwecken. Also blieb ihm nur eine Möglichkeit, wenn seine Mission nicht in einem Desaster enden sollte. Als sie nur noch ein paar Meter über dem Boden waren, packte er mit seiner gepanzerten rechten Hand eines ihrer Zehengelenke und kniff ihr kräftig ins Fleisch.
Illeani heulte auf. Reflexartig löste sie ihren Griff und der Reiter fiel zu Boden, wo er geschickt auf den Füßen landete.
Die Soldaten vor ihm rissen überrascht die Augen auf, als er plötzlich aus dem Nichts vor ihnen auftauchte, aber er gab ihnen keine Gelegenheit sich aus ihrer Starre zu lösen. Ohne sich auch nur die Mühe zu machen sein Schwert zu ziehen hatte er dem ersten die gepanzerten Finger seiner rechten Hand in die Kehle gestoßen und dem Mann, der links von ihm stand mit der anderen Hand an der Schulter gepackt. Der Soldat ließ fluchend seinen Speer fallen, der auf die geringe Reichweite keine Hilfe war und griff nach seinem Schwert. Doch bevor er es ziehen konnte, zog Karis seine Hand aus der Kehle seines ersten Opfers, packte ihn jetzt auch an der rechten Schulter und grub ihm seine Zähne in die Kehle. Er schmeckte Blut und musste leicht würgen, dennoch biss er fester zu, bis er die Luftröhre durchstoßen hatte.
Mit vor Schreck geweiteten Augen beobachteten die verbliebenen zwei Soldaten wie ihr Kamerad in den Händen des Schattenläufers erschlaffte, bevor er zusammensackte und der Reiter zurücktrat und sich das Blut von der Kehle wischte. Als hätte er die entgeisterten Blicke gerade erst bemerkt, hob er den Kopf und sah sie an. Seine schwarzen Augen ließen sie schaudernd die Waffen heben, doch anstatt auf sie loszugehen, deutete er ungerührt mit einem erhobenen Zeigefinger nach oben. Während der eine von ihnen, ein junger Mann mit braunem Haar das für eine Finte hielt und ihn nicht aus den Augen ließ, folgte sein Mitstreiter dem Fingerzeig und schrie überrascht auf. Aber trotz der Vorwarnung schaffte es keiner von ihnen mehr rechtzeitig zu reagieren.
Mit einem Knurren stampfte Illeani sie in den Boden.
Dann hob sie den Kopf und blickte den Schattenläufer fragend an. „Ich wusste gar nicht, dass Zweibeiner auch mit Zähnen und Klauen kämpfen.", meinte sie neugierig. Karis zuckte mit den Schultern. „Tun die meisten auch nicht.", entgegnete er ungerührt, bevor er sich wieder der Tür zuwandte, die zwischen den beiden Statuen aus denen sie die violetten Edelsteine, herablassenden Augen ähnlich anfunkelten, emporragte. Sie war ungewöhnlich groß. Zwar immer noch bei weitem zu klein um selbst Illeani, die die kleinste der Drachen bei den Varden war einzulassen, aber immer noch bei weitem zu groß für ein gewöhnliches Gebäude dieser Größe. Einen Moment dachte er darüber nach, ehe er es mit einem Schulterzucken abtat.
Es war auch nicht weiter wichtig. Doch bevor er zwischen die beiden Statuen hindurchtrat, betrachtete er die Edelsteine genauer. Dunkle pulsierende Magie flackerte zwischen den beiden Steinfiguren hin und her und ließ ihn innehalten. Misstrauisch geworden wandte er sein Astralauge an und stieß sofort einen Fluch aus. „Natürlich!", grummelte er wütend, „Warum hätte es auch einfach sein sollen?" „Was ist denn?", wollte Illeani wissen, die ihr mächtiges Haupt über seine Schulter gelegt hatte und jetzt auch neugierig die beiden Statuen betrachtete. Anstelle einer Antwort, hob der Drachenreiter seine Hand und fuhr einmal durch den Raum zwischen den beiden Statuen.
Sofort flammten die violetten Edelsteine auf. Die Tochter seines Seelengefährten knurrte überrascht und machte einen Schritt rückwärts. Ein unheimliches Glühen ging von den Augen aus und erlosch erst, als der Schattenläufer seine Hand wieder zurückzog. „Die Steine sind mit einem Schutzzauber versehen.", erklärte er dem aufgewühlten Drachenmädchen, das die Statuen nicht aus den Augen ließ, als ob sie erwartete, dass sie jeden Moment zum Leben erwachen und sich auf sie stürzen würden.
„Wenn jemand der nicht von den Priestern des Helgrinds gestattet ist, versucht die Tür zu erreichen, dann wird nicht nur Alarm ausgelöst, es werden auch eine Reihe von Schutzzaubern ausgelöst, die vermutlich so konzipiert sind, dass sie den Eindringling außer Gefecht setzen. Daher scheidet ein direkter Angriff durch die Vordertür aus." Unsicher, ob sie ihn richtig verstanden hatte, legte das Drachenmädchen den Kopf auf die Seite. „Aber kannst du nichts dagegen tun? Vater hat mir erzählt, dass du einer der mächtigsten Magier ganz Alageasias wärst." Seufzend zuckte Karis mit seinen Schultern. „Das ist zwar zutreffend, Illeani, aber du darfst nicht vergessen, dass dutzende Priester des Helgrinds diese Steine mit Energie versorgt haben. Ein einzelner Magier, auch wenn er so mächtig ist wie ich kann da nicht so ohne weiteres durchkommen. Zwar gibt es Mittel und Wege das zu umgehen...", ein zorniges Brüllen schnitt ihm das Wort ab.
Sowohl er als auch das Drachenmädchen blickten für einen kurzen Moment nach oben, wo Sereth gerade eines der Lethrblaka von seinem Rücken schüttelte.
Dunkel Bluttropfen regneten auf die Stadt herab und selbst auf die Entfernung konnte Karis die kleinen Wunden erkennen, die das weiße Schuppenkleid seines Drachen verunzierten. Zorn wogte in seinem Inneren auf, als er die Verletzungen sah und für einen Moment musste er gegen das Verlangen ankämpfen seinen ganzen Auftrag über den Haufen zu werfen und in den Kampf am Himmel einzugreifen, aber schweren Herzens rief er sich zur Ordnung. Seinem Seelengefährten würde er damit nicht helfen können.
Wenn er sein Ziel aus den Augen verlor, hätte das nur zur Folge, dass sie wieder genau da stehen würden, wo sie angefangen hatten. Daher wandte er sich von dem Kampf ab und vollendete an Illeani gewandt seinen Satz mit den Worten, „...aber dafür fehlt uns leider die Zeit." Doch gerade als er sich wieder den Statuen zuwenden wollte, hörte er ein lautes Rauschen hinter sich. Irritiert drehte er sich herum, nur um im nächsten Moment reflexartig den Kopf einzuziehen und in Deckung zu gehen.
Sein Körper klatschte auf die Erde, als er sich zu Boden warf und Illeanis kräftiger Schweif knapp über ihn hinweg fegte.
Die Statuen zerbarsten in tausend Teile, als sie von dem Schlag getroffen wurden und das Drachenmädchen stieß ein befriedigtes Knurren aus. Ihre Zufriedenheit blieb ihr allerdings im Hals stecken, als der Schattenläufer wieder auf die Beine kam und sie finster anfunkelte. „Was sollte das denn?", wollte er aufgebracht wissen. „Du hast gesagt, wir haben keine Zeit.", verteidigte sie sich eingeschnappt. „Also dachte ich das wäre die beste Lösung. So wirken diese Zauber doch sicher nicht mehr, oder?" Mit mühsam beherrschter Wut, kniff sich Karis in seinen Nasenrücken. „Doch Illeani tun sie. Und du hast sie gerade aktiviert."
Wie um seine Worte zu untermauern ging ein plötzliches Leuchten von den Steinen in dem Trümmerhaufen hinter ihm aus. Feines, violettes Licht brach zwischen den Steinsplittern hervor und gleichzeitig ertönte ein lautes Knarzen. Das massive Eingangsportal öffnete sich langsam, ähnlich dem Schlund eines Meeresungeheuers und spie eine Gruppe von in Kutten gehüllte, Gestalten aus, die die Treppe hinunterliefen und auf sie zukamen.

Der Weiße SchattenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt