62. Silberäugiges Raubtier

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Genervt glitt Karis durch die Flure der Festung, während das Drachenmädchen auf seiner Schulter unaufhörlich an seinem Ohr, seinen Haaren und allem anderen, was sie erreichen konnte, knabberte. Er konnte es nicht fassen. Beinahe hatten sie es geschafft gehabt. Ohne größere Zwischenfälle waren  sie zum Tor zu gelangt. Nur einigen wolfsähnlichen Chimären waren sie unterwegs begegnet, für die er nicht mal die improvisierte Knochenlanze, die er der Wächterkreature vor seiner Zelle abgenommen hatte, hatte verwenden müssen. Er hatte ihnen entweder mit seinen scharfen Fingernägeln die Luftröhren aufgeschlitzt, oder einfach mit einem gezielten Schlag in eines ihrer Augen, die Hand so tief hineingegraben, um das Hirn zu beschädigen.
Aber dann, gerade als er die offene Festungstür erreicht hatte, hatte er ein lautes vernehmliches Grummeln vernommen. Erst hatte er das Geräusch ignoriert, bis das Drachenmädchen begonnen hatte leise zu wimmern. Der Ton hatte ihn dazu veranlasst, sich sofort im Schatten eines der Nebengebäude im Hof der Festung zu verbergen. Dort hatte er erst einmal das Küken zusammen mit dem Ei von seiner Schulter gehoben und es fragend angesehen. Zu Beginn, hatte es nur mit unglücklichem Gesicht seinen Blick erwidert, bis er plötzlich das nagende Gefühl auffing, das von dem kleinen Wesen ausging. 

Die Kleine hatte Hunger. 

Frustriert fuhr sich der Schattenläufer durch die Haare, während er leise an einer Chimäre vorbeiglitt. Er bewegte sich völlig lautlos und nur der kleine Beutel über seiner linken Schulter und das leise Rascheln von Drachenschuppen auf seiner Haut hätten ihn verraten können, doch diese Geräusche gingen im Krach, der von außerhalb der Festungsmauern herüberklang unter. Er hatte sich schon gefragt, woher er kam, doch jetzt musste er sich erst einmal um das Vordringlichere seiner Probleme kümmern.
Das stetige Grummeln der Kleinen hatte ihm keine Wahl gelassen. An den beiden riesenhaften Chimären, die vor dem Tor standen wäre er mit dem stetig maulenden kleinen Schuppenbündel niemals vorbeigekommen. Zudem hatte sich auch noch angefangen leise zu wimmern und an allem zu knabbern, was sie erreichen konnte. Und so niedlich das auch war, so war das eine nicht zu unterschätzende Behinderung bei seinem Versuch zu entkommen. Daher hatte er sich dazu entschieden erst einmal zurück in die Festung zu schleichen um dem kleinen Monster etwas zu essen zu besorgen. 
Aufmerksam lauschte er in einen mit scharlachroten Wandteppichen behängten Flur hinein, bevor er ihn betrat und weiterschlich. 
Aber das hatte sich als schwerer erwiesen als er gedacht hatte. Er hatte eigentlich gehofft, dass er die Küche des Schlosses schnell finden würde, aber da hatte er sich geirrt. Stattdessen war er an jeder zweiten Ecke über Chimären gestolpert. Nur mit Mühe war es ihm bisher gelungen jeden größeren Kampf, der eventuell die Aufmerksamkeit des neues Schlossherrn und seiner spitzohrigen Hexe erregt hätte, zu vermeiden. Mit leisen Schritten näherte er sich einer dicken Eichentür. Kurz blieb er davor stehen und legte sein Ohr an das Holz, doch er konnte keinen Laut aus dem Inneren hören, stattdessen nahm er einen Geruch wahr, der durch die schmalen Ritzen drang. Das kleine Wesen auf seiner Schulter schien ihn auch riechen, denn ein deutliches Magengrummeln drang an sein Ohr und die Kleine hörte kurz auf vor Hunger zu fiepen, um stattdessen verzückt die Luft einzuziehen. Sie stieß ein genießerisches Summen aus. 
Was auch immer sie roch, schien genau ihren Geschmack zu treffen. Er wollte gerade die Tür öffnen, als das sanfte Geräusch abbrach und einem erschrockenen Fauchen Platz machte. Im selben Moment drang ein Bild in Karis Bewusstsein ein. Bevor er seine Gedanken verschließen konnte, erblickte er eine riesige wurmartige Chimäre, mit zahlreichen Widerhaken. Ihre Kiefer waren widernatürlicher Weise sowohl nach oben und unten, als auch nach links und rechts aufgesperrt, sodass sie einer grotesken Blume mit vier mit blitzenden Zähnen besetzten Blütenblättern glich. Instinktiv machte er einen schnellen Satz nach hinten. 
Die Kreatur, die sich über ihm mit ihren dornartigen Fortsätzen an der Decke festgehalten hatte, ließ im selben Moment los und krachte mit einem donnernden Geräusch an genau der Stelle zu Boden, an der er gerade eben noch gestanden hatte. Hätte das kleine Drachenmädchen ihn nicht gewarnt, hätte das Ungetüm ihn einfach unter der schieren Masse seinen Körpers begraben, was aufgrund der Tatsache, dass sein Körper immer noch unter den Nachwirkungen der magieunterdrückenden Drogen litt, seinen Tod bedeutet hätte. 
Seine geistigen Fähigkeiten waren inzwischen zwar mehr oder weniger zurückgekehrt, aber sein Wortschatz in der alten Sprache war immer noch wie von einem dichten Nebel verhüllt. Daher hatte er zum jetzigen Zeitpunkt auch keinerlei Schutzzauber, die ihn vor dem Aufprall, den Widerhaken oder den massiven Kiefern der Kreatur geschützt hätten. Aufmerksam beobachtete Karis, wie die Kreatur sich langsam auf den hinteren Teil ihres dicken Körpers stellte um sich zu ihm umzudrehen, wobei sie bedrohlich mit den Kiefern klackte. Kurz ging ein Schauer durch ihren widerwärtigen Körper, dann stürzte sie sich vor. 
In dem Sekundenbruchteil den sie benötigte um zu ihm zu gelangen, wog der Schattenläufer die verschiedenen Möglichkeiten, die ihm blieben in seinem Kopf ab. Kurz flog ihm sogar die irrsinnige Idee, der Chimäre mit dem weißen Drachenei den Schädel zu zertrümmern, durch den Kopf. Schnell glitt er zur Seite und wich dem Riesenwurm aus. An sowas sollte er nicht einmal denken. 
Allein für den Gedanken hätte Sereth ihm eine Ohrfeige mit seinem Schweif versetzt. Stattdessen ließ er den kleinen Drachen schnell, aber sanft zu Boden gleiten, während das dicke Ungetüm sich zu ihm umdrehte und setzte auch den Beutel mit dem Ei ab. Dann griff er an. Die rechte Hand um die Knochenlanze geschlossen schlug er nach dem Kopf der Kreatur, aber das Wesen war absurd flink für seine Gestalt. 
Es wog sich auf seinem dicken Hinterteil hin und her und wich mit unvorhersehbaren Bewegungen den Stichen, geschmeidig aus. 
Innerlich fluchend machte Sereths Reiter einen Satz nach hinten. Das durfte so nicht weitergehen. Bei einem kurzen Blick über die Schulter sah er, dass das kleine Drachenmädchen sich inzwischen schützend um seinen Nestgefährten geschlungen hatte und ein jämmerliches Fiepen ausstieß. Anscheinend war die Kleine ziemlich verunsichert durch den Anblick der Chimäre. Karis konnte das durchaus verstehen. Drachen waren die Herrscher der Lüfte und des Feuers.
Ausgewachsen waren sie die vermutlich stärksten Lebewesen in Alagaesia. Aber das noch namenlose Drachenmädchen war mit der Situation vermutlich einfach überfordert. Sie war seit gerade mal zwei Stunden aus dem EI und hatte in dieser Zeit schon Kreaturen gesehen, die jedem Instinkt und natürlichen Trieb, den die Kleine hatte widersprachen. Ganz zu schweigen davon, dass es sich bei ihr um einen wilden Drachen handelte, der anders als Reiterdrachen in ihrer Kükenzeit keinen Seelengefährten an ihrer Seite hatte und für einen gewissen Zeitraum von ihren Eltern abhängig war. 
Darum war sie zutiefst verunsichert. Karis stieß ein Knurren aus, dass selbst dem seines Seelengefährten Konkurrenz gemacht hätte. Er hasste es ihre Jugend zu verderben, indem er sie quasi durch ein Schlachtfeld schleppte, aber er hatte keine Wahl. Wenn sie hier blieb war sie in einer wesentlich größeren Gefahr, als da draußen. 
Selbst wenn er sie irgendwo versteckte und sie magisch in einen tiefen Schlaf versetzte, damit niemand sie finden würde, wäre das Risiko, dass Ecros sie dennoch aufspüren würde viel zu groß. Und was der wahnsinnige Schattenelf mit der Kleinen vorhatte, wollte er sich nicht einmal vorstellen. 
Also mussten sie beide hier raus. Erneut rannte er auf die Chimäre zu. Kurz bevor er sie erreichte, schlug er plötzlich ein Rad. Er stemmte sich mit seiner freien rechten Hand am Boden ab und ließ seinen rechten Fuß auf den Kopf der Chimäre herunterkrachen. Doch erneut wich die Kreatur ihm aus. 
Aber dieses Mal hatte er die Bewegung vorhergesehen.
In dem Moment, in dem der mit Widerhaken besetzte Wurm zurückwich, landete Karis wieder auf den Füßen und stieß mit der Knochenlanze zu. Die bleiche Spitze seiner improvisierten Waffe bohrte sich durch den Oberkiefer des Ungetüms und trat an der Rückseite wieder aus. Mit einem wütenden Zischen bäumte sich sein Gegner auf, doch bevor sie die Gelegenheit hatte, zum Gegenangriff über zu gehen, zog Karis den Knochen aus dem Kiefer und stieß ihn ihr so tief in das blutunterlaufene Auge, dass er abbrach. Kurz verharrte er in dieser Position, unsicher ob er das Gehirn erwischt hatte, bevor die Spitze abgebrochen war, doch der erlöschende giftgrüne Schein in ihre Augen zeigte ihm, dass sein Angriff erfolgreich gewesen war. Mit einigen Schritten entfernte er sich von der getöteten Chimäre und hob das kleine Drachenmädchen, welches ihn erleichtert anfiepte auf, bevor er die Tür zur Küche öffnete. 
Dort sah er sich erst einmal um. Zwar hatten die Chimären bereits einen großen Teil des dort gelagerten Fleisches verschlungen, doch er entdeckte immer noch einige Brocken Fleisch, das er der Kleinen vorsetzen konnte. 
Während sie aß, sah er sich noch weiter um und entdeckte zu seiner Freude diverse scharfe Messer, für die er Verwendung hatte. Notgedrungen funktionierte er eine herumliegende Schürze zu einer Art Gürtel um und band damit die Messer an seiner Hüfte fest. Derart bewaffnet, wartete er darauf, dass Sereths Tochter ihre Mahlzeit beendete. Nachdem sie fertig war, stieß sie ein zufriedenes Rülpsen aus und ließ sich träge nach hinten sinken. Karis hob sie wieder auf und legte sie sich wie vorhin über die rechte Schulter. Danach nahm er das Ei auf die linke Schulter und machte sich auf den Rückweg zum Haupttor. Schattengleich glitt er durch die Flure. Die Chimären, die er auf dem Hinweg bereits erledigt hatte lagen immer noch an den Stellen, an denen er sie erschlagen hatte, aber das Blut war inzwischen größtenteils aus ihren Körpern gepulst, sodass jede einzelne von ihnen in einer gräulich-rötlichen Lache lagen. 
Während das namenlose Drachenmädchen auf seiner Schulter bei dem Geruch angewidert schnaufte, ignorierte der Schattenläufer den Gestank. Er hatte in seinem Leben bereits genug von Ecros Schöpfungen mit bloßen Händen getötet, um daran gewöhnt zu sein. Dennoch blieb er auf einmal abrupt vor einer Tür stehen. Argwöhnisch betrachtete er den Zugang von oben bis unten. Seine geistigen Fähigkeiten waren wieder angestiegen, sodass er inzwischen sogar fähig war, bis zu einem gewissen Grad seine Astrallevitation wieder anzuwenden, daher spürte er genau, dass auf der anderen Seite der Tür jemand war. Eine Person, die ihre Gedanken sorgfältig abschirmte und, ihren Geist vor ihm verbarg. Doch ihre körperlichen Charakteristika, die er mittels seines inneren Auges wahrnahm, konnte sie nicht verbergen. Die Narbe an seinem Rücken schien zu glühen und sandte eine Welle aus Zorn und Wut durch seinen Körper. 
Grimmig setzte er das Drachenmädchen wieder ab, welches warnend knurrte. Anscheinend hatte sie auch die Präsenz gespürt und war beunruhigt darüber, dass er sich trotz seines Zustandes dorthin begeben wollte. Doch er beachtete sie nicht. Auch wenn er immer noch etwas eingeschränkt war, durch die Drogen, die sein ehemaliger Lehrmeister ihm eingeflößt hatte, konnte er sich diese Gelegenheit nicht entgehen lassen. 
Er hatte 30 Jahre lange gedacht, dass er sie damals umgebracht hatte. Er war damals in eine blinde Raserei verfallen, als all die Hoffnungen auf Akzeptanz der Völker Alagaesias ihm gegenüber mit einem grausamen Lächeln zerschmettert worden waren. In seiner Wut hatte er ihr den rechten Arm ausgerissen und versucht ihr mit den Zähnen das Gesicht zu zerfleischen. 
Er war sich sicher gewesen, dass sie seinen Angriff damals nicht überlebt hatte. Aber anscheinend war er so von seiner Blutlust geblendet gewesen, dass sie es irgendwie geschafft hatte ihm zu entkommen. Und danach war sie anscheinend zu seinem ehemaligen Lehrmeister übergelaufen. Die beiden Personen, die er in ganz Alagaesia am meisten verabscheute, arbeiteten zusammen. Während er mit der rechten Hand eines der Messer aus dem Gürtel zog, öffnete er die Tür. Es war an der Zeit den Fehler den er damals gemacht hatte zu korrigieren. 
„Hallo, Nyria.“ Ein genüssliches Lächeln, glitt über ihre Lippen, als er den Raum betrat. Einige Fackeln spendeten Licht und tauchten die Elfe in einen flackernden Schein, der den Wahnsinn, der in ihren Augen glomm noch zu unterstreichen schien. Sie trug noch immer dieselbe Kleidung, wie als sie ihn in der Zelle besucht hatte, aber jetzt hatte sie außerdem einen Umhang um sich geschlungen, der ihre linke Körperhälfte fast vollständig verbarg. Langsam trat Karis auf sie zu. Das Drachenmädchen, das zusammen mit dem weißen Ei in der Tür stand, fiepte aufgeregt. 
Die ganze Situation gefiel ihr nicht. Diese Frau roch einfach falsch und obwohl sie ihre Gedanken noch nicht in Worte fassen konnte, die der Schattenläufer verstehen konnte, nahm er ihre Sorge wie einen dunklen Windhauch war, der um ihn herumwehte. Eine Sorge, die er teilte. Vorsichtig zog Karis ein weiteres Messer hervor und ließ den Griff durch die Finger seiner linken Hand gleiten, während er Nyria argwöhnisch musterte. Er traute es seiner einstigen Geliebten durchaus zu, seinen Zorn auf sie zu nutzen, um ihn in einen Hinterhalt zu locken. Und so erpicht er auch auf seine Rache war, hatte er dennoch nicht vergessen, den Raum vorsorglich zu untersuchen, bevor er ihn betreten hatte. Aber allem Anschein nach war sie allein. 
Spöttisch lächelnd beobachtete sie, wie er sich ihr langsam näherte. In ihrer verbliebenen Hand trug sie Zwielicht, welches sie jetzt langsam hob, bis es auf das Drachenmädchen in der offenen Tür wies. „Anscheinend hatte Ecros Recht, dass die beiden in deiner Gegenwart wahrscheinlicher schlüpfen würden, wie unter den Chimären.“ Mit geheuchelter Dankbarkeit senkte sie vor ihm den Kopf. „Wir sind dir wirklich dankb…“, abrupt brach sie ab und riss den Kopf zur Seite. Gerade noch rechtzeitig, als eines der Messer knapp an ihrer Kehle vorbeisauste. Blitzschnell riss Karis das Nächste aus dem Gürtel und rannte auf sie zu. Seinen ersten Hieb blockte sie knapp mit Zwielicht, doch dann hatte sie sich von der Überraschung überholt und ging zum Gegenangriff über. 
Karis kreuzte seine beiden Waffen vor dem Kopf um den Schlag der Elfe abzufangen und trat danach nach ihrem Knie um sie aus dem Gleichgewicht zu bringen, doch sie sprang geschmeidig zurück, bevor er sie treffen konnte. „Wie es aussieht, willst du nicht reden.“ Erwartungsvoll leckte seine Gegnerin sich über die Lippen. Ihre Augen glühten vor wahnsinniger Vorfreude auf das kommende Blutvergießen und veranlassten den Drachenreiter kurz innezuhalten. Argwöhnisch musterte er die Frau mit den knochenbleichen Haaren. 
Zwar hatte er gewusst, dass sie ihn verabscheute, aber anscheinend hatte er die Stärke ihres Hasses unterschätzt. Als er in ihre silbern, glühenden Augen blickte, konnte er förmlich ihr Verlangen sehen, ihn mit bloßen Händen in Stücke zu reißen. Sie wirkte wie ein verletztes Raubtier, das nur auf eine Gelegenheit wartete ihm an die Kehle zu springen. Nichts in ihrem Blick erinnerte mehr an die Elfe, die er einst geliebt hatte. Und obwohl sich alles in ihm dagegen sträubte, empfand er so etwas wie Mitgefühl bei ihrem Anblick. Sie hatte alles verloren, was sie einst ausgemacht hatte. Ihre Schönheit war verschwunden und ihre geistige Gesundheit dahingeschmolzen unter den beständigen Einflüsterungen des Schattenelfen. Im Moment war sie nicht mehr, als ein Tier, dass darauf abgerichtet worden war, ihn zu hassen und ihn mit allem was ihr zur Verfügung stand zu bekämpfen. 
Sie war ein Abbild dessen, was in Ecros Klauen aus ihm geworden wäre, wenn er Sereth nicht gehabt hätte. 
Mit einem schrillen Schrei, stürzte sie erneut auf ihn. Geschmeidig glitt er zur Seite, als sein eigenes Schwert auf ihn herabfuhr. Wieder und wieder schlug sie auf ihn ein und zwang ihn entweder zur Seite oder nach hinten auszuweichen. Sie nutzte gekonnt die längere Reichweite seines Schwertes aus um ihn auf Abstand zu halten und behielt gelichzeitig seine Beinarbeit genau im Blick um ihm nicht die Gelegenheit für einen Überraschungsangriff zu geben, wie zuvor in seiner Zelle. „Nun“, dachte er bitter, während er einen weiteren Angriff knapp mit dem rechten Messer blockierte, „ihre Kampfkunst hat unter seiner Beeinflussung zumindest nicht gelitten.“ Auch ihr Kampfstil war durch ihren wahnsinnigen Hass auf ihn nicht schlampig oder unkoordiniert geworden, wie es bei vielen in Wut entbrannten Idioten, die einfach auf ihren verhassten Feind einschlugen, der Fall war. Sie kämpfte zwar nicht mehr mit der kalten, emotionslosen Konzentration des schönen Volkes, doch ihr glühender Zorn verlieh ihren Bewegungen ein Feuer, das den anderen Elfen, mit denen er bisher zu tun gehabt hatte, fehlte. 
Mit raubtierhafter Anmut, ließ sich Karis auf alle Viere gleiten und führte mit ausgestrecktem rechten Bein eine blitzartige Drehung durch, die der Elfe die Beine unter dem Körper wegzog. Er setzte nach und schleuderte sein rechtes Messer auf ihren rechten Arm, doch sie drehte sich schnell genug zur Seite, dass seine Waffe statt in weiches Fleisch in den Boden eindrang. Mit einem Knurren wich er ein paar Schritte zurück, als sie wieder auf die Beine kam und zog sein letztes Messer aus dem Gürtel. Jetzt hatte er wieder in jeder Hand eines, aber keines mehr in seinem Gürtel. 
Also musste er jetzt vorsichtiger mit dem Messerwerfen sein. 
Dieses Mal griff Karis zuerst an. Eine Zeitlang scheuchten sich die beiden hin und her. Die größere Reichweite der Waffe der Elfe, sorgte zusammen mit der körperlichen Beeinträchtigung ihres Gegners durch die Drogen dafür, dass sie einigermaßen ebenbürtig waren und unter anderen Umständen hätte der Schattenläufer den Kampf einfach hinausgezögert bis die Wirkung der Betäubungsmittel, so weit verflogen war, dass sie ihn nicht mehr beeinflussen würden, doch ihm war nur zu bewusst, dass er vorsichtig sein musste. Auch wenn die Elfe im Moment allein war, war er sich nur zu bewusst, dass sie es ihrem Meister sicher berichtet hatte, als er vor ihr aufgetaucht war. Darum hatte er keine Zeit um sie hinzuhalten. 
Er musste diesen Kampf schnell beenden, bevor Verstärkung auftauchte.  
Mit seinem rechten Messer täuschte er einen Schlag auf ihr Knie an, was die Elfe dazu zwang zurückzuweichen. Gleichzeitig stieß er mit seiner zweiten Waffe in Richtung ihres Gesichts um sie aus dem Gleichgewicht zu bringen, doch Nyria war schneller. Mit einem klirrenden Geräusch prallte sein Messer von Zwielicht ab, als sie seinen Schlag parierte und zum Gegenangriff überging. Erneut zwang ihr wilder Kampfstil ihn recht schnell in die Defensive. Im Stillen verfluchte er sich dafür, seine Waffe nicht mit einem Schutzzauber versehen zu haben, der verhinderte, dass jemand anderes als er selbst sie verwendete, als die Klinge zum wiederholten Mal nur knapp an seiner Kehle vorbeiglitt. Da kam ihm eine Idee. Normalerweise hätte er sie nicht in Erwägung gezogen, doch das waren besondere Umstände. Zum einen musste er den Kampf schnell beenden und zum anderen kannte er die Waffe die seine Gegnerin verwendete, wesentlich besser als sie selbst. Jede Rille, jede Schattierung der Klinge war von ihm so geplant worden. Er hatte Jahre darauf verwendet um die Waffe so hinzubekommen, wie sie jetzt war. 
Anders als bei den Reiterklingen war es bei ihr zwar nicht gewährleistet, dass sie nie ihre Schärfe verlieren würde und sie war nicht so belastbar, wie die Waffen des alten Ordens, aber sie war dennoch ein nicht zu unterschätzendes Tötungswerkzeug. Außerdem war sie vielseitiger. Er hatte sie mit Absicht etwas weniger beständig konstruiert, damit er sie, falls er im Laufe seines Lebens, noch Möglichkeiten zur Verbesserung entdecken würde, diese dann noch nachträglich in das Metall einarbeiten könnte. So war es ihm möglich gewesen das Schwert, während der Jahre, immer weiterzuentwickeln und wenn er vor einer wichtigen Schlacht genügend Zeit hatte, konnte er es außerdem dadurch an die besonderen Umstände anzupassen. 
Wenn er zum Beispiel in einer beengten Umgebung kämpfen würde, konnte er die Klinge kürzen, damit sie ihm nicht im Weg wäre. Durch die jahrelange immer wieder auftretende Arbeit an Zwielicht war ihm inzwischen jeder Teil dieses Schwertes so vertraut wie sein Handrücken. Und dass würde er jetzt ausnützen. Karis drehte sich leicht zur Seite um einem Stich, der auf seine Rippengegend gezielt hatte zu entgehen. Jetzt musste er nur noch eine Möglichkeit schaffen seinen Plan in die Tat umzusetzen. Leicht gebeugt glitt er nach vorne und hieb mit beiden Messern nach ihrem Bauch. Sie konterte den Schlag indem sie Zwielicht direkt nach unten schlug und ihm die Messer aus der Hand schlug. Fluchend sprang er zurück. Dabei zeigte sein Gesicht genau die richtige Mischung aus Wut und Sorge, die der Situation angemessen waren, doch sein Innerstes war leer. Keine störenden Emotionen und Gedanken gingen ihm im Augenblick durch den Kopf. Er war ganz auf ein einziges Ziel fokussiert. 
Als die Elfe erneut zu einem Angriff ansetzte wich er, wie die vielen Male zuvor zurück, aber dieses Mal nur so wenig, dass die Klinge von Zwielicht haarscharf an seinem Auge vorbeisauste. Lediglich eine Haaresbreite, trennte seine Pupille von dem aschegrauen Stahl und für einen  kurzen Augenblick sah es für Nyria so aus, als ob sie ihn erwischt hätte. Diesen Bruchteil einer Sekunde, in dem ihre Wachsamkeit kurz nachließ, nutzte er aus. Sein Bein schoss in die Höhe und traf mit voller Wucht auf die blanke Fläche des Schwertes. Von dem überraschenden Angriff überrumpelt konnte sie die Waffe nicht mehr festhalten und sie entglitt ihren Fingern. Sie versuchte die Waffe noch festzuhalten, doch Karis war schneller. Ohne die Schärfe der Waffe zu beachten, packte er die Klinge mit der linken Hand und riss sie an sich. 
Ein stechender Schmerz durchfuhr seine linke Hand, als das Schwert sich in seine Handfläche grub und ein kleines Rinnsal Blut herabzutropfen begann. Grimmig wechselte er die Führungshand und nahm der Griff in die rechte Hand. Als seine Finger sich um das Schwert schlossen, war es ihm als würde sein Geist einen Muskel anspannen und der Rest der Trägheit, die ihn noch durchflutet hatte, verflüchtigte sich. Beiläufig wischte er sich die linke Hand an seiner Hose ab und musterte die Elfe aus kalten Augen. „Also, wollen wir diese Scharade dann beenden?“ 
Ohne auf eine Antwort zu warten griff er an. 
Geschmeidig entglitt seine Gegnerin seinem Angriff und wich einige Schritte zurück, bis sie vor einer Tür stand, die genau gegenüber der lag durch die er hereingetreten war. Er hatte sie bis jetzt nicht bemerkt, weil er zu sehr auf die Elfe geachtet hatte. Für einen kurzen Moment huschte so etwas wie Bedauern über ihr mit Narben verunziertes Gesicht, als sie ihn betrachtete, bevor sie durch die Tür stürmte und sie hinter sich ins Schloss warf. Fluchend setzte der Schattenläufer dazu an ihr zu folgen. Offensichtlich hatte sie bemerkt, dass er sich inzwischen von den Drogen erholt hatte und war sich nicht mehr sicher, ob sie sich alleine gegen ihn würde behaupten können. 
Daher zog sie die Flucht einen Kampf vor.
Gerade wollte er die Tür aufreißen, als ihn ein erschrockenes Fauchen herumfahren ließ. Das Drachenmädchen, das zusammen mit dem weißen EI immer noch im Türrahmen lag, blickte erschrocken zu einer menschenförmigen Chimäre mit einem Auge auf, deren Finger in grotesken knöchernen Klauen endeten. Mit einem irren Keckern griff die Kreatur nach der kleinen Echse, die sie anfauchte. Obwohl ihre Haltung Angriffsbereitschaft ausstrahlte konnte Karis klar erkennen, dass das Drachenmädchen von dem Wesen, das auf sie herabblickte verängstigt war, aber bereit war sich und ihren Nestgefährten mit dem Mut der Verzweiflung zu verteidigen.  
Aber dazu kam es gar nicht. Ihr durchdringendes Fiepen hatte den Drachenreiter aus seinem klaren Geist, wie er diesen Konzentrationszustand nannte, gerissen und auch wenn er die verpasste Chance bedauerte, zögerte er keine Sekunde, der Tür durch die seine einstige Geliebte verschwunden war, den Rücken zuzukehren. Mit unnatürlicher Präzision, schleuderte er sein Schwert genauso wie vorhin die Messer und traf das Ungetüm genau in der Mitte des rotglühenden Auges.
Noch bevor die Kreatur leblos zusammensinken konnte war er neben ihr, zog seine Waffe wieder aus ihrem Schädel und versetzte  ihr einen Schubs, damit sie nicht auf die Tochter seines Seelengefährten fiel. 
Kurz beobachtete er die Kreatur um sicher zu gehen, dass sie nicht mehr am Leben war, bevor er seinen Blick wieder auf die andere Tür richtete. Resigniert stieß er die Luft aus. Die Elfe zu verfolgen wäre in dieser Situation töricht. Auch wenn er sein Schwert wieder hatte, musste er immer noch auf die Kleine aufpassen, was ihm in jeder Kampfsituation einen immensen Nachteil verschaffte. Und er war sich sicher, selbst wenn er sie einholen würde, das nächste Mal wenn er sie in diesem Schloss fand würde sie nicht mehr so leichtsinnig sein ihm alleine gegenüberzutreten. Daher schob er sein Schert in seinen improvisierten Gürtel und hob mit der linken Hand das Drachenmädchen und den Beutel mit dem Ei auf, bevor er sich zu der Tür wandte durch die er hereingekommen war. Sie würden sich wiedersehen, das stand außer Frage und dann würde er diese Angelegenheit ein für alle Mal bereinigen.

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