Mit leerem Blick, betrachtete Karis die Leiche der weißhaarigen Elfe, die mit aufgerissener Kehle zu seinen Füßen lag. Sein Inneres war wie leer gefegt. Er nahm weder die abgehackten Atemzüge des verletzten Elfenkriegers, die unter Brionnas Heilzaubern langsam wieder regelmäßiger wurden, noch die Aufregung der Varden war, die um sie herum standen und bei dem Versuch einen Blick auf das Drachenei zu erhaschen, würdelos gafften. Er konnte nicht glauben was er sah. Nyria war tot. Das Licht in ihren Augen erloschen, ihre Lippen die so oft hasserfüllte Drohungen ausgespien hatten, waren jetzt zu einer entsetzten Grimasse verzogen und ihre blassen Haare lagen wie ein blasser Ring um ihren Kopf herum ausgebreitet. Blut befleckte ihren Hals und ihr Kleid, obwohl die Wunde, die die Krallen einer Werkatze in ihren Hals gerissen hatten, schon längst ausgetrocknet war. Nur ein kleines Rinnsal lief noch immer ihre Kehle hinab und tropfte sanft zu Boden.
Nach dem Tod des letzten Lethrblakas war die Schlacht an der Mauer schnell entschieden. Die Priester des Helgrinds, waren von dem Tod ihres Gottes derart getroffen, dass es eine Kleinigkeit für die nun wieder vier Reiter war sie aus der Menge der Soldaten herauszupicken und anders als der Hohepriester, der ob der Ermordung ihrer ehrwürdigen Alten in grenzenloser Wut entflammt war, verspürten die unteren Klassen durch den Anblick des gefallenen Ungetüms eher Hoffnungslosigkeit und Verzweiflung.
In wilder Panik, versuchten sie das Schlachtfeld so schnell wie möglich hinter sich zu lassen und flohen in das Innere der Stadt. Doch dadurch verrieten sie nicht nur ihre Position, sondern ließen auch noch ihre Soldaten schutzlos zurück. Danach dauerte es nicht mehr lange, wie die vereinte Streitmacht aus Menschen, Zwergen und Urgals, jetzt unterstützt von zwei blauen Drachen und einem Reiter erst die Stadtmauern einnahm und dann weiter ins Innere vordrang, während Karis und Sereth und Murtagh und Dorn die fliehenden Jünger des Helgrinds zur Strecke brachten.
Die Einwohner der Stadt entdeckten die Reiter, bei ihrer Suche nach verbliebenen Mitgliedern der Jünger des Helgrinds, die sich wie Maden in der ganzen Stadt verteilt hatten, in einem unterirdischen Abschnitt der Zitadelle im Zentrum der Stadt. Der Stadtherr der im Grunde nur eine Marionette der Priester gewesen war, versuchte zwar mit seinen wenigen restlichen Männern Widerstand zu leisten, aber nachdem Sereth kurzerhand im Hof vor dem verschlossenen Tor gelandet war und den gesamten Innenhof der Zitadelle mit Eis überzogen hatte, hatte er sich ergeben. Danach hatte er die Tore gar nicht schnell genug öffnen können. Was durch Sereths Machtdemonstration jedoch etwas erschwert worden war. Aber nachdem sie erst einmal offen waren, war die Angelegenheit rasch entschieden gewesen. Die wenigen Männer die noch gekämpft hatten, ergaben sich widerstandslos als die Nachricht von der Gefangennahme ihres Fürsten sich in der Stadt verbreitete.
Die Reiter waren gerade mit dem Heilen und der Überführung der Stadtbewohner aus ihrem Kerker in den Burghof beschäftigt gewesen, als die Auslösung einiger ihrer Schutzzauber, mit denen sie das Zelt in dem das weiße Drachenei untergebracht war, sie alarmiert hatte. Sereth und Saphira hatten keinen Moment gezögert. Schon einmal hatten sie den Verlust eines ihrer Eier erleben müssen und sie waren beide wild entschlossen etwas derartiges nicht noch einmal durchzumachen. Mit wilden Flügelschlägen hatten sich in die Lüfte geschwungen und Karis hatte gerade noch genug Zeit gehabt, Murtagh und Dorn anzuweisen, bei den Geiseln zu bleiben um für ihre Sicherheit zu sorgen, bis der Hauptteil der Streitmacht in der Festung angekommen war und dann nachzukommen.Und jetzt standen zwei Reiter und zwei Drachen vor dem Ergebnis des Angriffs der sie alarmiert hatte. Während die Geister von Sereth und Saphira vor Freude übersprudelten beim Anblick ihres unversehrten Kükens, war fühlte Karis sich in diesem Moment unnatürlich leer.
Nyria, die Geisel seiner Jugend, die Ursache des zweitgrößten Traumas seines Lebens? Tot? Gefällt durch die Krallen einer jungen Werkatze, von der er nicht einmal den Namen kannte. Er schüttelte den Kopf, wie um einen merkwürdigen Traum zu verscheuchen. Es erschien ihm so unwirklich. Seit er erfahren hatte, dass sie noch am Leben war, hatte er immer angenommen, dass er derjenige sein würde, der sie zur Strecke bringen musste. Dass es ihr Schicksal wäre einander ein letztes Mal gegenüberzustehen und das zu Ende zu bringen, was er vor einigen Jahrzehnten begonnen hatte. Das jemand anderes sie töten könnte, war ihm nie auch nur ansatzweise in den Sinn gekommen. Es war seine Aufgabe gewesen. Seine Pflicht, die er noch erfüllen musste um seinen Fehler von damals wieder gut zu machen.
Und doch war es anders gekommen.
Emotionslos wanderte sein Blick weiter über den Schauplatz von Nyrias Angriff und versuchte die ganzen Eindrücke zu analysieren, die in diesem Moment sein Denken überfluteten. Sereth und Saphira in ihrer Hast zu dem Ei zu gelangen ignorierte er. Er wusste auch ohne hinzusehen, was in diesem Moment in seinem Seelengefährten vor sich ging. Die grenzenlose Erleichterung und Freude des weißen Riesen war in diesem Moment das einzige was ein kleines Licht in die atemlose Leere in seinem Inneren warf.
Seine Augen wanderten weiter zu Wyrden, dessen Verletzung sich inzwischen geschlossen hatte und der unter dem sanften Glühen, das von Brionnas Händen ausging in eine sanfte Ohnmacht abgeglitten war. Ein weiterer Funke gesellte sich zu dem wärmenden Feuer, das Sereths Begeisterung in seinem Inneren schürte. Die Erleichterung, dass seine Gefährtin das Aufeinandertreffen mit seiner wahnsinnigen ersten Liebe überlebt hatte, war ihm sehr willkommen in der kalten Leere, die Nyrias Tod in seinem Inneren hinterlassen hatte. Er wusste nicht, ob er es ertragen hätte, zu allem was er in seinem langen Leben schon verloren hatte, noch diesen weiteren Verlust ertragen zu müssen.
Mit wenigen Schritten, war er neben Brionna, die aufblickte und ihm einen unlesbaren Blick zuwarf. „Wie geht es ihm?“, fragte er. „So weit gut.“ Ihre Miene war sorglos und auch sonst deutete nichts darauf hin, dass sie ihn nur beruhigen wollte. „Zum Glück hatte er schon selbst mit der Heilung begonnen, daher hält sich auch der Blutverlust in Grenzen. Nach einer ausgiebigen Nachtruhe sollte er wieder bei Kräften sein.“ Karis nickte. Wohl wissend, dass das Erlebnis für seine Gefährtin wesentlich schlimmer gewesen war, wie für ihren kampferprobten Cousin, beugte er sich, wie um den verletzten Elfen näher zu begutachten, über ihre Schulter hinab und hauchte ihr ins Ohr: „Und wie geht es dir?“
Ihr Blick wurde weich und unbewusst griff sie mit einer Hand nach seiner, die er auf ihre Schulter abgelegt hatte. Das wärmende Gefühl in seiner Brust schwoll an, dennoch entging ihm nicht das leichte Zittern, das ihre Geste begleitete. „Es geht mir gut.“ Sie schenkte ihm ein schwaches Lächeln. „Ich meine, das ist ja nicht das erste Mal, dass ich jemanden bluten sehe.“ Karis seufzte. Das hatte er geahnt. Sein eigenen Unwohlsein beiseiteschiebend bedeutete er Eragon mit einem Winken, sich zu ihnen zu gesellen und ihren Platz bei dem Verletzten einzunehmen. Danach zog er sie ein paar Schritte zurück und legte ihr die Hände auf die Schultern. „So und jetzt sag mir wie es dir wirklich geht.“
Unfähig seinen Blick zu erwidern, sah sie zur Seite. „Ich weiß nicht was du meinst.“ „Ich meine, dass gerade eine Elfe versucht hat, sowohl dich als auch deinen Cousin umzubringen.“ Seine Worte klangen hart, das wusste er, aber er bezweifelte, dass er anders in der Lage wäre zu Brionna durchzudringen. Die junge Elfe war eine Pazifistin. Jemand dessen Leben darin bestand, andere zu heilen, ihnen beizustehen. Sie war keine Kämpferin, niemand der anderen Schmerzen zubereiten würde oder sie willentlich verletzte. Sie war das genaue Gegenteil der sadistischen Hexe, deren Tod sie gerade aus nächster Nähe mitangesehen hatte. Wenn ihr Leben auf dem Spiel stand, würde sie sich verteidigen, das wusste er, aber jemanden töten, das kam für sie nicht in Frage. Bei dem Angriff der Chimären auf ihr Lager war das noch etwas anderes gewesen, das waren untote Kreaturen, ihr Angriff war unwirklich gewesen und war den meisten Elfen im Nachhinein mehr wie ein schrecklicher Traum, als ein wirkliches Ereignis erschienen.
Das hier war das erste Mal gewesen, dass jemand den sie lebendes Wesen ansah sie angegriffen hatte, noch dazu jemand aus ihrem eigenen Volk und bei dem sie aus nächster Nähe gesehen hatte, wie er starb. Sicher beim Heilen von Verwundeten hatte sie schon mehrmals einen Mann, oder eine Frau sterben sehen, aber dennoch so etwas direkt beizuwohnen war noch einmal etwas anderes.
Das musste Spuren auf ihr hinterlassen haben. Doch aus irgendeinem, ihm unerfindlichen Grund weigerte sie sich, sich ihm anzuvertrauen. Stattdessen schenkte sie ihm ein Lächeln. „Es ist wirklich alles in Ordnung.“, versicherte sie ein weiteres Mal. „Es ist ja nicht so, als ob sie in der Lage gewesen wäre mir etwas anzutun, bevor Kirjava…“ Bei den letzten Worten brach ihre Stimme und sie senkte den Kopf. Doch mehr brauchte sie auch nicht zu sagen. Ihr vor Scham gesenktes Haupt und ihre erröteten Ohrspitzen verrieten dem Reiter auch so, was in diesem Moment in seiner Gefährtin vorging.
Er stieß ein lautloses Seufzen aus. „Weshalb glaubst du, dass du mich anlügen musst.“ Als sie darauf noch immer nicht reagierte, hob er mit einem Finger Brionnas Kinn an, sodass sie ihm ins Gesicht sehen musste. „Oder dass du es kannst?“ Ihre Augen zuckten zur Seite, ohne ihm eine Antwort zu geben. Ungerührt fuhr er fort: „Glaubst du mir war nicht klar, dass du nicht gerne kämpfst? Dass du jedes Mal vor Mitgefühl zusammenzuckst, wenn ein Krieger auf dem Schlachtfeld fällt?“ Noch immer erwiderte sie seinen Blick nicht. Stattdessen senkte sie ihre Augen, doch er konnte in ihrem Gesicht die Antwort lesen. Sie hatte Angst um ihn. Angst ihn zu verlieren. Er kannte die Geschichte seines Lebens. Er war ein Kämpfer. Ein Krieger, der mehr Schlachten geschlagen hatte, als jedes lebende Mitglied der Varden. Und jetzt wo er ihre Abneigung dem Töten gegenüber bemerkt hatte, hatte sie Angst, dass er sie als schwach ansehen würde und er sie nicht mehr als Gefährtin haben wollte. Ein sanftes Lächeln spielte um seine Lippen.
Sie könnte damit nicht falscher liegen. Erneut hob er ihr Kinn an. Doch bevor sie sich dieses Mal aus seinem Griff entwinden konnte, küsste er sie. Zum ersten Mal völlig ungeachtet der gaffenden Menschenmenge, oder der irritierten Blicke der anderen Elfen, die in einigen Schritten Entfernung das weiße Drachenei bewachten. Als er ihre Lippen wieder frei gab, sah er wie sie langsam rot wurde, als sie die gaffenden und manchmal enttäuschten Blicke der Männer und Frauen der Varden bemerkte. Karis Lächeln wurde breiter.
Er hatte so oft mit Elfen zu tun, die ihre Emotionen so gut unter Kontrolle hatten, dass sie wie sich bewegende Statuen wirkten, dass er es immer wieder erfrischend fand, wie leicht er seinen Gefährtin eine Gefühlsregung entlocken konnte.
„Das Leben wertzuschätzen ist keine Schwäche, Brionna.“, begann er, nachdem das Elfenmädchen endlich seinen Blick erwiderte. „Es ist Zeichen einer unglaublichen inneren Stärke, die ich sehr respektiere, auch wenn ich diese Ansicht nicht teile.“ „Aber du bist ein Krieger. Du hast gekämpft und getötet um andere zu beschützen und ich kann das einfach nicht!", protestierte sie leise, nachdem ihr aufging, dass alles Leugnen zwecklos wäre. Ihr Gefährte hatte sie durchschaut. "Und in solchen Zeiten bin ich dir damit doch nur eine Last.“ Seufzend zog er sie gegen seine Brust. „Du solltest dein Licht nicht so unter den Scheffel stellen. Ich sehe dich nicht als Last. Du bist mein Anker, der mich bei Verstand hält.“ Verwirrt blickte sie zu ihm auf. Ihr Blick verlangte nach Erklärungen. Am Rande seines Bewusstseins bemerkte er wie sich die Aufmerksamkeit seines Seelengefährten von dem weißen Ei auf ihn richtete, doch schenkte er dem im Moment keine große Beachtung.
Er war damit beschäftigt seine Gefühle dem Elfenmädchen in seinen Armen gegenüber in Worte zu fassen. Etwas worin er noch nie gut gewesen war. „Du erinnerst mich daran, wofür ich kämpfe, weshalb ich mich auf die Seite der freien Völker gestellt habe und nicht einfach nur wie verrückt nach Rache strebe.“ Er nahm ihr Gesicht in beide Hände. „Verstehst du? Wenn ich dir nicht begegnet wäre, hätte es passieren können, dass ich nach diesem Krieg genauso hätte enden können wie Ecros, oder wie sie.“ Er ließ ihr Gesicht los und drehte sie so, dass sie zu dem noch immer da liegenden Leichnam von Karis ehemaliger Gefährtin blickte. Ihre Augen weiteten sich erschrocken. „Du wärst nie so geworden.“, protestierte sie heftig. „So bist du einfach nicht.“ Karis zuckte mit den Schultern. „Wer weiß. Bevor ich diesem Krieg offen beitrat, war ich ein mächtiger Krieger, der nur einen einzigen Lebensinhalt kannte. Ich wollte Rache und den Tod des Monsters, das mich zu dem gemacht hat, was ich bin. Aber jetzt…“
Sein Blick schweifte über die versammelten Reiter, Elfen und Drachen. Er dachte an Murtagh und Dorn, seine ersten und einzigen Schüler, die er inzwischen als enge Freunde ansah, an Eragon und Sereths Nistpartnerin Saphira und an das aufgeweckte Drachenmädchen Illeani, das ihm schon zwei Mal das Leben gerettet hatte. Selbst mit den anwesenden Elfenmagiern kam er inzwischen gut aus. Etwas, das vor seinem Beitritt der Armee der Varden noch für unmöglich gehalten hätte- Mit einem Arm um die Schultern seiner Gefährtin betrachtete er das Bild vor sich und ließ sich von der Wärme des Augenblicks durchfluten, die langsam das letzte Gefühl der Bitterkeit und Leere, das der Tod seiner ehemaligen Gefährtin in ihm aufgerissen hatte, aus seiner Brust tilgte.„…jetzt sehe ich die Dinge etwas anders.“
DU LIEST GERADE
Der Weiße Schatten
Hayran KurguEin weißer Drache und sein Reiter retten Eragon am Helgrind das Leben und helfen ihm zurück zu den Varden zu gelangen. Doch über ihre Vergangenheit hüllen sich die beiden in Schweigen und auch ihre Fähigkeiten geben den Varden und ihren Verbündeten...