82. Stumpfe Scherben

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Argwöhnisch bemühte sich Karis die Kapuzengestalten, die aus dem geöffneten Portal strömten nicht aus den Augen zu lassen. Doch das erwies sich als schwierig. Illeanis übereilter Angriff auf die Statuen hatte nämlich nicht nur die Jünger des Helgrinds alarmiert. Grellgelbe Lichtranken begannen sich aus den Trümmern emporzuwinden und schlangengleich aufzusteigen. Sie züngelten einen Moment orientierungslos umher, bevor sie sich auf den Reiter und das junge Drachenmädchen stürzten. Der Schattenläufer warf sich reaktionsschnell zur Seite, so dass der Zauber ihn verfehlte, doch Illeani hatte weniger Glück. Der Zauber wand sich um ihren Körper, band ihre Flügel an ihren Leib und verdrehte ihre Beine, bis sie unter ihren Körper gebunden waren.
Sie stieß einen aufgebrachten Schrei aus. Mit aller Kraft versuchte sie sich aus den Fesseln zu lösen, doch es gelang ihr nicht. Die Lichtranken saßen so stramm, dass sie sich in ihr Fleisch gruben und mit jedem Sträuben gegen die Magie sorgte sie nur dafür, dass sie sich tiefer eingruben. Zähneknirschend wich Karis einem erneuten Versuch der Lichtranken aus ihn ebenso zu fesseln und versuchte zu ihr zu gelangen, doch unerwartet sah er sich einer weiteren Attacke ausgesetzt. Ein plötzlicher Schmerz durchzuckte Karis Gedankenwelt, als die Priester seinen geistigen Schutzwall aus mehreren verschiedenen Richtungen simultan angriffen. Nur knapp konnte er einer weiteren Lichtschlange ausweichen, während er gleichzeitig mit seinen geistigen Angreifern rang. Die Jünger des Helgrinds, wagten es anscheinend nicht sich in den Wirkungsbereich des Zaubers zu begeben, da dieser nach der Aktivierung keinen Unterschied mehr zwischen Freund und Feind zu machen schien, daher hatten sich für einen anderen Weg entschieden ihn anzugreifen. 
Immer wieder gelang es ihm gerade so den Ranken des Zaubers auszuweichen, während er gleichzeitig seinen geistigen Schutzwall aufrechterhielt. So war nicht daran zu denken Illeani zu helfen. Er schaffte es gerade so nicht selbst in die glühenden Fäden zu geraten. Er taumelte unelegant zur Seite, um einem weiteren Angriff auf seinen Körper zu entgehen und hörte das gehässige Gelächter der Priester in der Pforte, die sich über seine Vorstellung amüsierten. Ganz offensichtlich bereitete es ihnen große Freude einen ihrer Feinde vor ihnen tanzen zu sehen. Er musste diese Sache schnell beenden, sonst würden diese kranken Fanatiker ihre geflügelten Götter alarmieren und dann würde es wirklich unangenehm werden. 
Um sich ein wenig Zeit zu verschaffen, riss er eine Aeolskugel aus dem Geheimfach an seinem Gürtel. Er duckte sich unter einer Lichtranke hindurch und schleuderte die gläserne Kugel genau einem der Razac-Anbeter vor die Füße.
Wie schon am Helgrind trat die Wirkung sofort ein. So wie das Gefäß zersprang, brach ein tosender Wind aus und sprengte die Gruppe auseinander. Die Gestalten fielen übereinander, teils nach innen zurück in das Gebäude, teils auf die Straße, wo sie sich in ihrem eigenen Zauber verfingen. Einer stürzte besonders ungünstig an das Treppengeländer und Karis konnte sein Genick mit einem berstenden Geräusch knacken hören, als es brach. Die Gliedmaßen, der vor seine Füße gefallenen Magier verhedderten sich mit den Ranken ihres eigenen Zaubers und erschwerten ihnen das Aufstehen, außerdem begann er von dem Drachenreiter abzulassen und schlangengleich wickelte er sich um seine eigenen Beschwörer. Anscheinend hatten die Priester beim Wirken ihrer magischen Falle nicht ausführlich genug auf die Formulierung geachtet und jetzt wendete sich ihr eigener Zauber gegen sie. 
Ehe die Gestalten vor seinen Füßen sich befreien konnten, riss er Zwielicht aus der Scheide und stürzte sich auf sie. Da die Lichtranken für den Moment damit beschäftigt waren sich um die Jünger des Helgrinds zu wickeln, musste er sich nicht mit ihnen befassen und konnte sich voll und ganz auf seine wehrlosen Gegner konzentrieren. Geschmeidig wie ein Raubtier glitt er durch die Masse an gefallenen Feinden und stach mit seiner Waffe immer wieder in das Getümmel, bis sich keiner mehr regte. 
Innerhalb von Sekunden hatte er alle, die auf der Straße gelandet waren getötet. 
Blut tropfte von seiner Klinge und benetzte seine Schuhe, als er neben der letzten Leiche zum Stehen kam und sich einmal umsah. Die Jünger, die im Inneren gelandet waren, hatten sich erneut im Torbogen versammelt, aber wagten es anscheinend nicht näher zu kommen, da sie nur noch zu fünft waren, doch der Zauber nagte noch immer an Illeani. Das junge Drachenmädchen kämpfte verzweifelt gegen ihre Fesseln an, aber das einzige was sie erreichte, war dass die Lichtschlangen sich immer enger um sie wickelten. Wenn Karis nicht schnell etwas unternahm würde sie sich noch selbst strangulieren. 
Er stieß seine Waffe wieder in ihre Scheide und war mit zwei Schritten an ihrer Seite und sprang auf ihren Rücken. „Bleib ruhig!“, rief er laut, da er in solcher Nähe zu den Jüngern des Helgrinds nicht wagte seinen Geist zu öffnen und legte dem Drachenmädchen sanft die Hand auf die Schnauze. „Wenn du dich weiter gegen die Fesseln stemmst machst du es nur schlimmer.“     
Das wie ein Stück Sternenhimmel, funkelnde Drachenmädchen schnaubte unwillig, aber stellte ihre Befreiungsversuche ein. Gerade noch rechtzeitig wie Karis feststellte. Eine der Lichtranken hatte gerade begonnen sich um ihren Hals zu wickeln. Wenn sie weiter so gewütet hätte, hätte es passieren können, dass sie sich selbst erwürgte. Sie besaß zwar starke Schutzzauber, die sie vor fast allen Angriffen geschützt hätten, aber leider keinen, der ihr beim Atmen half, wenn ihr die Luft ausging. 
Das würde er später noch beheben müssen. 
Doch für den Moment hatte er andere Sorgen. Schnell aber gründlich, wobei er trotzdem die Tatsache, dass eine Gruppe feindlicher Magier nicht weit von ihm entfernt stand nicht außer Acht ließ, untersuchte er die Fesseln. Nach einigen Augenblicken, die Illeani wie eine Ewigkeit vorkamen, kratzte er sich schließlich am Kopf. „Tja“, murmelte er schließlich, „Das wird dir zwar nicht gefallen, aber ich fürchte du bleibst erst einmal hier.“ Illeani stieß ein protestierendes Knurren aus. 
Doch noch bevor sie ihre Meinung äußern konnte, sprang der Schattenläufer, auf der den Jüngern des Helgrinds abgewandten Seite von ihrem Rücken. 
„Hör zu!“, sagte er mit einer Stimme, die keinen Widerspruch duldete. „Dieser Zauber wir von einer zu starken Kraftquelle gespeist, als das ich ihn so ohne weiteres lösen könnte. Der einzige Weg ihn aufzuheben ist entweder, wir warten hier bis unsere Verbündeten hier auftauchen und ich ihn mit ihrer Hilfe brechen kann, oder ich suche die Quelle und zerstöre sie. Und da ich keine Ahnung habe wie lange unsere Freunde noch brauchen werden um die Stadtmauern einzunehmen, entscheide ich mich für die zweite Möglichkeit.“ 
Ohne ihr auch nur die Zeit für eine Antwort zu geben, zog er wieder seine Waffe und sprintete an ihrem massigen Körper vorbei und auf die überrumpelte Gruppe von Magiern zu, die noch immer das Eingangsportal blockierte. Den paar verbliebenen Lichtranken, die nicht damit beschäftigt waren entweder das Drachenmädchen oder den leblosen Haufen von Razac-Anbetern zu fesseln, wich er geschickt aus und dann stand er schon direkt vor den Jüngern. Der erste von ihnen schaffte es gar nicht mehr seine Waffe zu ziehen. Er stieß einen jämmerlichen Schrei aus, bevor ihm die aschegraue Klinge den Schädel spaltete. 
Der zweite zog seine wie eine Drachenschwinge geformte Klinge halb aus der Scheide, bevor ihm Karis Faust den Brustkorb zerschlug und er Blut spuckend zu Boden fiel. Die mit Widerhaken besetzte Rückseite seiner Panzerhandschuhe hinterließ ein widerliches Schmatzen, als er seine Hand aus dem Torso zog, aber das ignorierte er. Denn inzwischen waren die verbliebenen drei Kuttengestalten bereit. Sie versuchten es mit derselben Formation, die ihm gerade eben solche Probleme bereitet hatte. Während einer von ihnen seinen Geist angriff, versuchten zwei von ihnen, die mit Krummschwertern bewaffnet waren, ihn von der Treppe und zurück in die Reichweite ihres Zaubers zu bugsieren. 
Eine Strategie, der Karis unter anderen Umständen durchaus Anerkennung gezollt hatte, allerdings hatten die Jünger des Helgrinds vergessen, dass sie inzwischen nur noch zu dritt waren. Mühelos parierte der Schattenläufer die Schwerthiebe seiner beiden Gegner, während er gleichzeitig seine geistige Verteidigung verstärkte. Zwar war er nicht in der Lage gleichzeitig den Geist und die Körper von drei Gegnern auf einmal zu überwältigen, aber solange er sich bei dem geistigen Kräftemessen mit der Verteidigung begnügte, konnte er den beiden Schwertkämpfern genügend Aufmerksamkeit widmen um sich ihrer zu entledigen. Geschmeidig ließ er einem Hieb seines Gegners an seiner Klinge abgleiten, wirbelte sein Schwert einmal herum und stieß es dem Jünger mit einem Rückhandstoß in die Brust. 
Sein Kamerad versuchte seine Ablenkung auszunutzen und schlug nach seinem Kopf, doch diesen Angriff fing der Reiter mit der Rückseite seiner Handschuhe ab. Die Klinge prallte wirkungslos an dem aschegrauen Stahl ab und noch bevor der Mann erschrocken zurückweichen konnte, ließ der Schattenläufer kurzerhand sein Schwert los und schlug ihm mit der rechten Hand den Schädel ein. Dann wandte er sich dem letzten der drei zu, der ihn jetzt erschrocken und verunsichert anstarrte, aber noch nicht willens zu sein schien aufzugeben. 
Mit einem verkniffenen Gesichtsausdruck verdoppelte er seine Anstrengungen in seinen Geist einzudringen. Ein hoffnungsloses Unterfangen. Mühelos wehrte der Reiter den Angriff ab und schlug gedanklich zurück. Er verharrte einen Moment bei dem geistigen Schutzwall seines Gegners, der hauptsächlich aus unzusammenhängenden auswendig gelernten Versen bestand, ehe er ihn durchbrach und in seine Gedankenwelt eindrang. Er machte sich gar nicht erst die Mühe die Gefühle und Erinnerungen um ihn herum zu studieren. Zwar konnte es unter anderen Umständen nützlich sein zu wissen, was in den Köpfen dieser kranken Razac-Anbeter vor sich ging, aber ihm ging die Zeit aus. 
Er suchte nur kurz nach dem Ursprung der Schutzzauber der Lethrblaka und der Quelle von Illeanis Fesselzauber und dann errichtete er kurzerhand eine mentale Sperre in dem Bewusstsein des Mannes. Dazu ließ er ein Gefühl in sich aufsteigen, das nach und nach sein Denken erfüllte. Es breitete sich in seinem Kopf aus, durchströmte ihn wie schwarzes Wasser, ehe er es in sein Opfer fließen ließ. Es war ein Gefühl, dass er aus seiner Kindheit nur zu gut kannte, Hoffnungslosigkeit, Trauer und stumpfe Verzweiflung. Diese Gefühle waren so stark, dass sie in den Kopf seines Gegners eindrangen und sein Denken überlagerten. Schwarze Flecken begannen die Erinnerungen des Mannes zu verdecken und Bilder verschwanden aus seinem Geist, bis er schließlich eine leere Hülle war, gefüllt mit dem finsteren Nachhall, nicht endender Verzweiflung.  
Mit Tränen in den Augen, sank der Jünger des Helgrinds zu Boden. Sein Blick war leer und sein Gesicht schmerzerfüllt. Das was er eben gesehen und vor allem gespürt hatte, hatte sein Denken überfordert. Obwohl er wusste, dass der Mann ihn vermutlich gar nicht hören konnte, fühlte sich Karis bei dem Anblick verpflichtet ihm zu versichern: „Keine Sorge, in ein paar Stunden hast du alles wieder vergessen.“ Dann betrat er, nach einem letzten Blick zu Illeani das Gebäude. Beinahe sofort sah er sich in einem enormen Raum wieder. Das ganze Gebäude bestand aus einem einzigen leeren Zimmer, in dessen Ecken sich Pfeiler aus violettem Kristall befanden. Die Pfeiler ähnelten kunstvoll verzierten Säulen in die zahlreiche mystische Bilder eingeschnitzt worden waren, von denen der Schattenläufer unter normalen Umständen sehr fasziniert gewesen wäre, aber im Moment erregten die mächtigen Energieströme die von dem Gestein ausgingen mehr seine Aufmerksamkeit. Karis benötigte nicht einmal sein Astralauge um sicher zu sein, dass er die Quelle der Schutzzauber der Lethrblaka gefunden hatte. 
An jeder der Ecken, stand ein Priester des Helgrinds vor den Kristallsäulen und wiederholte endlos einen einzigen Vers aus dem Buch des Tosk, dem heiligen Text ihrer Religion. Ihre Litanei war widerwärtig und schmerzte dem Schattenläufer in den Ohren, daher bemühte er sich nicht hinzuhören, während er in die Mitte des Raumes trat, wo die einzelnen Energieströme zusammenliefen, aber dennoch vernahm er einzelne Bruchstücke. Worte in der alten Sprache, merkwürdig verdreht und ihren Wahnvorstellungen angepasst. Lobpreisungen von Blutvergießen und Morden ihrer ehrwürdigen Alten, mit denen sicher die Lethrblaka gemeint waren und andere Scheußlichkeiten, die selbst dem durch so viel Dunkelheit gewanderten Schattenläufer einen Schauer den Rücken hinunterliefen ließ. 
„Und Ungläubiger hast du genug gesehen?“ 
Im ersten Moment dachte Karis einer der Priester hätte mit ihm gesprochen, doch diese waren noch immer mit ihrer Litanei beschäftigt. Er ließ seinen Blick einmal durch den Raum wandern und entdeckte schließlich eine groteske Kreatur direkt unterhalb der wandernden Energieströme der Stadt. Die gewaltigen Energiemengen hatten den Reiter abgelenkt, deshalb hatte er die arm- und beinlose Kreatur nicht sofort bemerkt, aber jetzt wo er sie vor sich sah musste er würgen. Er kannte die groben Züge der Religion der Jünger des Helgrinds, er wusste, dass sie sich Körperteile abschnitten und sie ihren Göttern als Opfergabe darbrachten, aber wie krank musste man sein, um sich selbst  so zuzurichten, wie diese Gestalt es getan hatte. Ihm fehlten nicht nur Arme und Beine, weshalb er offensichtlich auf einer samtenen Sänfte thronte, seiner abgehackten Stimme nach, fehlte auch ein Stück seiner Zunge und auch eines seiner Ohren sah nicht mehr vollständig aus.
Verglichen mit diesem Mann sahen Ecros Chimären beinahe normal aus. Doch mehr Zeit sich Gedanken um das äußere seines Gegenüber zu machen, bei dem es sich nach allem, was er vor der Mission von Eragon gehört hatte, um den Hohepriester handeln musste, hatte er nicht. Ein geistiger Angriff prallte mit voller Wucht  gegen seine gedankliche Verteidigung und er blieb abrupt stehen. Er konnte sich keinen Millimeter mehr rühren. Die geistige Präsenz, die sein Bewusstsein von allen Seiten umschloss, hielt ihn mit eiserner Gewalt fest und versuchte mit aller Macht in seine Gedanken einzudringen. Karis musste unwillkürlich schlucken. Der Hohepriester, denn es musste der Hohepriester sein, der dafür verantwortlich war, verstand sich auf diese Kunst wesentlich besser, als die Jünger, die er gerade an dem Eingangstor getötet hatte. 
Seine Attacke war gnadenlos und präzise. Auf brutalste Art und Weise durchsuchte er Karis Schutzwall nach Schwachstellen, legte seine Finger in alte Wunden, riss unangenehme Erinnerungen hervor und nutzte sie um an dessen geistiger Verteidigung zu rütteln. Die albtraumhaften Bilder, die der Schattenläufer für gewöhnlich benutzte um sich zu verteidigen und die für gewöhnlich jeden noch so gefestigten Gegner aus dem Konzept brachten hatten auf diesen Mann keinerlei Einfluss. Ungerührt stocherte er in den Schrecken aus der Vergangenheit des Schattenläufers herum, die dieser für seine geistige Verteidigung nutzte.  
Im Nachhinein war das nur zu verständlich. 
Der Kult der Jünger des Helgrinds predigte ein Leben von Leid und Schmerz. Sie glorifizierten Blutvergießen und Selbstgeißelung und der Hohepriester hatte es geschafft diese Tugenden bis ins Extrem zu leben. Es war daher kein Wunder, dass die Bilder, die für gewöhnlich noch jeden Magier zum Zurückweichen gebracht hatten ihn kalt ließen. Zähneknirschend wehrte der Reiter eine weitere Attacke ab, die glühende Narben auf seinem Geist hinterließ und ging zum Gegenangriff über. Es war frustrierend. Er drosch mit aller Macht auf den Verstand des anderen Magiers ein, doch es brachte ihm nichts. Seine mächtigste Waffe war wirkungslos, seine schwarzen Scherben würden ihm ebenso wenig nutzen, wie seine Verteidigung aus Schmerz und Leid. Das bedeutete, dass er diesen Kampf allein auf seine geistige Stärke gestützt führen musste. 
Sicher war sein Verstand nach einem Jahrhundert an Erfahrung scharf und klar wie eine Diamantklinge, doch einen solchen Kampf hatte er schon lange nicht mehr geführt. Er war es nicht mehr gewohnt, dass ihm jemand lange Paroli bieten konnte und für seine Gewohnheit lief die Auseinandersetzung bereits zu lange. Einige Minuten rangen die beiden Magier miteinander, ohne dass einer von ihnen auch nur einen Handbreit nachgab. Unablässig jagten sie sich an den Rändern ihrer Gedankenwelten hin und her, griffen an, verteidigten sich und taxierten die Bewegungen des Verstandes ihres Gegners, ohne dass einer von ihnen sich einen Vorteil verschaffen konnte. 
Doch allmählich ließ Karis Konzentration nach. 
Anders als sein Gegner stand er unter Druck. Noch immer konnte er das Brüllen der Drachen in der Luft hören, gepaart mit dem Kreischen der Lethrblaka und dem Knirschen von Knochen, wenn die geflügelten Kolosse zusammenprallten. Er hatte keine Zeit mehr. Mit größter Anstrengung machte er einen Schritt nach vorne. Schon diese kleine Anstrengung führte dazu, dass der Druck auf seinem geistigen Schutzwall brutal anstieg. Tiefer bohrten sich die geistgien Fühler des Hohepriesters in seinen Schutzwall und er musste sich mächtig anstrengen um nicht augenblicklich nachzugeben. Trotzdem musste er einen Moment stehen bleiben, bevor er seinen Weg fortsetzen konnte. Unablässig gegen die Gedanken seines Gegners ankämpfend, fühlte es sich an, als ob er in Treibsand feststecken würde, jeder einzelne Schritt war eine Qual, doch er machte weiter. Sein Seelengefährte kämpfte da draußen um sein Leben und er würde den Teufel tun und gerade den Kampf verlieren, der das Leben seines Seelengefährten retten konnte.  
Seine geistige Gegenwehr erlahmte mit jedem Schritt, so sehr konzentrierte er sich darauf einen Fuß vor den anderen zu setzen. An einen Angriff war nicht mehr zu denken, da er sich im Gegensatz zu dem Hohepriester sowohl auf seinen Körper als auch auf seinen Geist konzentrieren musste und er verteidigte sich nur noch. Und dann hatte er die groteske Gestalt erreicht. Knapp fünf Schritte vor ihr blieb er stehen. Die Augen der verstümmelten Kreatur bohrten sich in seine. Die unsichtbare Schlacht des Willens zwischen den beiden mächtigen Geistern intensivierte sich und dann tat der Schattenläufer das Unmögliche. 
Er gab einfach nach. 
Seine eisernen Verteidigungsmauer lösten sich von einem Moment auf den anderen einfach in nichts auf, die massiven Barrikaden, die seinen Geist in einzelne Segmente aufteilten verschwanden einfach und für einen Moment ließ er seinen Gegner, der praktisch in sein Bewusstsein hineingeworfen wurde, orientierungslos zurück. 
Den einen Augenblick, den der Hohepriester benötigte um sich zurechtzufinden, nutzte der Schattenläufer aus. Er hob sein Schwert, doch bevor er zuschlagen konnte, durchfuhr ihn ein eiskalter Schmerz. Die Klinge entglitt seinen Fingern, segelte durch die Luft und schoss knapp an dem Hohepriester vorbei, der sich in diesem Moment einer fleischfressenden Made gleich, genüsslich durch seinen Verstand bohrte. „Ein wirklich kühner Versuch, Ungläubiger.“, spottete die kalte Stimme des Hohepriesters in Karis Kopf und ein neuer Schwall Schmerzen durchfuhr den Körper des Halbschattens. „Ich muss sagen, deine Kontrolle über deinen Verstand ist beachtlich. In Sekundenschnelle die geistige Verteidigung aufgeben um den entscheidenden Streich mit deinem Körper zu führen. Ohne Zweifel hättest du die meisten meiner Jünger damit getötet.“ Ungeniert drang der Hohepriester tiefer in die Gedankengänge des Schattenläufers ein.„Ich muss gestehen, du hast mich neugierig gemacht. Deine Gedanken fühlen sich düster und unheilvoll an, durchdrungen von Leid und Schmerz. Du würdest einen guten Jünger unseres Ordens abgeben.“ 
Trotz der Schmerzen, die den Schattenläufer inzwischen dazu gezwungen hatten, in die Knie zu sinken, stieß er ein spöttisches Schnauben aus, das die arm- und beinlose Kreatur zum Lachen brachte.„Dachte ich mir.“, meinte der Hohepriester und stieß seine gedankliche Klinge noch tiefer in den Geist seines Opfers. „Selbst jetzt, nachdem dein letzter Angriff erfolglos war, gibst du nicht auf. Doch das wird schon bald keine Rolle mehr spielen.“ Er durchdrang die innersten Schichten des Geistes des Halbschattens, wanderte auf verschlungenen Pfaden in Erinnerungen, die Karis noch niemandem gezeigt hatte, bis er schließlich in sein Innerstes blickte. 
Den tiefsten Punkt seiner Seele. Seinen wahren Namen. Tiefe Befriedigung, begleitet von einem enormen Hochgefühl durchströmte für einen Moment den Geist des Hohepriesters. Er hatte es geschafft. Er kannte den wahren Namen des Reiters der Galbatorix solche Probleme bereitet hatte. Mit diesem Wissen ausgestattet wäre es eine Leichtigkeit den Drachen des Reiters ebenfalls zu unterwerfen und die Schlacht um Dras Leona in neue Bahnen zu lenken. Eine glorreiche Vision, des Auflebens seiner erhabenen Götter, bildete sich vor seinem inneren Auge und unbewusst lockerte er seinen Griff um den Geist seines Gegners. 
Sofort strampelte der Schattenläufer sich frei, doch das kümmerte den Hohepriester nicht. Er kannte dessen wahres Ich. Das tiefste Innere des Reiters. Drei, zugegebenermaßen ziemlich lange Sätze in der alten Sprache und schon war der Halbschatten ihm ausgeliefert. Um was sollte er sich jetzt noch sorgen?  
Wie wenn sie aus tiefstem Wasser auftauchen würden, schnappten beide Magier nach Luft, als sie aus seiner Gedankenwelt auftauchten. Sie waren beide so tief in das Bewusstsein von Sereths Seelengefährten eingedrungen, dass sie nichts von den Ereignissen um sie herum bemerkt hatten und einen Moment brauchten um wieder in die Realität zu finden. 
Das Hochgefühl des verstümmelten Wahnsinnigen hielt an, bis er den Blick, den er während seiner konzentrierten Suche nach dem Namen des Reiters unbewusst gesenkt hatte, wieder anhob. Das was er sah, wischte ihm das erwartungsvolle Grinsen vom Gesicht und ließ ihn in kalten Schweiß ausbrechen. Zwei Reihen rasiermesserscharfer Zähne zielten genau auf seine Gestalt und dahinter glomm eine eisblaue Flamme. Das Letzte was er hörte, ehe das erste Feuer des jungen Drachenmädchens seinen Körper verzehrte, war die spöttische Stimme des Halbschattens, den er gerade noch besiegt geglaubt hatte. „Wieso dachtet ihr, dass mein letzter Angriff euch galt, Zungenloser?“ 

Der Weiße SchattenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt