75. Eine interessante Frage

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Erleichtert schloss Karis Brionna in die Arme. Die Verletzungen des Elfenmädchens waren zwar nicht so schwerwiegend gewesen, vor allem nicht, nachdem er bereits das Schlimmste an Ort und Stelle geheilt hatte, dennoch war er auf dem Weg zu dem Lagerplatz für die Verwundeten, den die beiden Drachen zusammen mit ein paar Elfenkriegern errichtet hatten, ziemlich beunruhigt gewesen. 
Das Bild seiner Gefährtin, wie sie leblos am Boden gelegen hatte, ihre weiche Haut zerfressen von dem Gift der Kreatur hatte ihn nicht losgelassen. 
Und erst jetzt wo sie sicher in seinen Armen lag, ihr Körper warm gegen seine Brust, durchlief ihn ein Schauer, der die Schatten der vergangenen Nacht langsam lichtete. Sereth hatte sich  beiläufig so gedreht, dass die restlichen Elfen diese offene Zurschaustellung von Zuneigung nicht beobachten konnten. Er verstand die Vorliebe für Heimlichkeit in dieser Angelegenheit nicht, aber da sein Reiter sich dafür entschieden hatte unterstützte er ihn. 
Ein Schauer durchlief den Körper der kleineren Elfe, als sie ihren Kopf an seine Brust barg und Karis kam nicht umhin sich zu erinnern, dass das ihr erstes Aufeinandertreffen mit Ecros Chimären war. Er erinnerte sich noch gut, wie die Krieger der Varden beim ersten Anblick der Kreaturen reagiert hatten. 
Das sie noch etwas verstört war, war daher nachvollziehbar. 
Das einzige was ihm einfiel um ihr damit zu helfen war, sie festzuhalten und ihrem Körper Wärme zu spenden. Das schien zu funktionieren. Nach einigen Sekunden ließ ihr Zittern nach und sie trat etwas zurück. Kurz fuhr sie sich mit der rechten Hand über das Gesicht. Dann zeigte ihr Antlitz wieder die Lebensfreude und Kühnheit, die dem Schattenläufer so gefiel. Lediglich ein leiser Schatten in ihren Augen verriet, dass sie die Ereignisse der Nacht noch nicht völlig überwunden hatte. Doch das überspielte sie gekonnt, als sie ihn besorgt musterte. „Bist du verletzt?“ Gelassen schüttelte er den Kopf. Er hatte zwar ein paar blaue Flecke einstecken müssen und um ehrlich zu sein, die letzte Chimäre hat ihm sogar ein paar Rippen angeknackst, aber das war nichts was nicht in den nächsten Stunden verheilen würde.
Daher legte er seiner Gefährtin die Hand an die Wange und antwortete beruhigend: „Um mich brauchst du dir keine Sorgen zu machen. Ich bin den Kampf gegen diese Scheusale gewohnt.“ Brionna schauderte bei der Erinnerung. „Das waren wirklich finstere Kreaturen. Ich habe zwar schon Tote und Verletzte bei den letzten Kämpfen gesehen, aber das hier war einfach noch mal etwas andere.“ 
Karis verstand ihr Dilemma nur zu gut. Für die Elfen, die keinen festliegenden Glauben hatten, besaß alles in der Natur eine feste Rolle, einen Daseinsgrund und eine bestimmte Aufgabe in der Welt, die sie zu erfüllen hatten. 
Doch Ecros Chimären waren widernatürlich. Sie entstanden durch die Versklavung von Wesen, die das schöne Volk nicht verstand, besaßen nur einen Instinkt, nämlich zu zerstören und widersprachen somit allem woran die sie glaubten. 
Ihre bloße Existenz rüttelte an den Grundpfeilern des Glaubens der spitzohrigen Krieger und verunsicherte sie zutiefst. 
Doch das war nichts woran er etwas ändern konnte. Daher war seine einzige Antwort auf Brionnas Unwohlsein, dass er sich nach vorne lehnte und sanft seine Lippen auf ihre legte. Er spürte wie ein warmer Schauer seinen Rücken hinunterlief, während die Elfe sich langsam entspannte und die Arme erneut um ihn schlang. Sie hatten sich bis jetzt schon ein paar Mal geküsst, doch so wie jetzt war es noch nie gewesen. Die Erregung der letzten Stunden vertiefte ihre Gefühle füreinander und während  er die Geste erwiderte setzte sein Denken komplett aus. 
Für ein paar Sekunden versanken sie in ihrer eigenen kleinen Welt, bis ein gedämpftes Hüsteln in ihren Gedanken sie auseinanderriss. „Wenn ihr dann fertig seid.“, bemerkte die schelmische Stimme des weißen Drachen, dessen gewaltiger Körper sie immer noch vor den Blicken der anderen abschirmte, worauf die beiden sich peinlich berührt ein paar Schritte voneinander entfernten.  
Der Drache hatte Recht. Auch wenn er einen guten Grund gehabt hatte, war jetzt wirklich nicht der richtige Zeitpunkt um sich solchen Gefühlen hinzugeben. „Zumindest scheint es funktioniert zu haben. Sie wirkt wesentlich ruhiger, als noch gerade eben.“ Obwohl die Stimme seines Seelengefährten von freundschaftlichem Spott durchtränkt war, konnte sein Reiter anhand des warmen Glühens in seinen Augen erkennen, dass es den Drachen jedes Mal freute zu spüren, wenn sich derartig warme Gefühle in seinem kleinen Schatten bildeten. 
„Also was gibt’s, Frostschwinge? Du hast uns doch sicher nicht ohne Grund auseinandergerissen.“ „Nun, während ihr damit beschäftigt wart einander das Gesicht abzuschlecken“, antwortete Sereth mit einem amüsierten Seitenblick zu Brionna, die rot anlief, „kam ein Bote von Islanzadi. Sie wünscht uns, Oromis und Glaedr zu sehen. Sie will genauere Informationen über die Kreaturen und welche Schäden sie angerichtet haben.“ „Ich verstehe.“ Der Reiter und sein Seelengefährte verabschiedeten sich kurz von der Elfe und folgten dem Boten zurück zum Pavillon der Königin. Auf dem Weg zur Herrscherin des schönen Volkes kamen sie nicht umhin erneut die Ausmaße der Zerstörung zu bemerken, die der Angriff von Ecros Schöpfungen angerichtet hatte. Dutzende trauernde Frauen und Männer standen herum. 
Manche trauerten um gute Freunde, manche um Gefährten und viele von ihnen trugen noch Spuren des Angriffs der vergangenen Nacht. Dabei handelte es sich meistens um kleinere Wunden, die jeder einfache Magier mühelos hätte heilen können, aber nichtsdestotrotz waren sie ein weiteres Indiz dafür, wie erschüttert die Elfen von dem Überfall waren. 
Keiner von ihnen schien bis jetzt die Energie dafür gehabt zu haben ihre Wunden zu versorgen. 
„Es ist furchtbar. Ecros Angriff hat tiefere Narben geschlagen, als ich angenommen habe.“ Sereth brummte bestätigend. „Ich hatte befürchtet, dass es solche Ausmaße annehmen würde.“, bemerkte Oromis, während sie eine Gruppe Elfen passierten, die den Verlust ihres Familienoberhauptes betrauerten. „Das letzte Mal, als unser Volk die schützenden Wälle Du Weldenvardens verließ um in die Schlacht zu ziehen hatten wir noch Glück. Zwar erlitten wir eine Niederlage gegen die Abtrünnigen, doch aufgrund der zahlreichen Magier innerhalb unseres Volkes und der sorgfältigen Planung König Evanders hielten sich unsere Verluste dennoch in Grenzen.“ „Das bedeutet der Großteil eures Volkes macht gerade die ersten Erfahrungen im Krieg gegen einen Feind, der sich gegen sie zur Wehr zu setzen weiß.“, schlussfolgerte der Schattenläufer. 
Oromis nickte. Emotionslos blickte der jüngere Reiter sich um. Zwar verspürte er durchaus Mitgefühl mit den Elfen, aber er kam nicht umhin die Tragödie auch als längst überfälligen Weckruf zu sehen.
Die Elfen mussten sich im Klaren darüber sein, dass sie in eine Schlacht zogen, die genauso gut mit ihrem Tod, wie mit dem Tod des Tyrannen enden konnte. Bis jetzt hatten sie das Schlachtfeld immer mit der Einstellung betreten, dass ihr Sieg sicher wäre. 
Jetzt sahen sie zum ersten Mal der Realität ins Gesicht, der sich die Varden, Zwerge und Urgals schon die ganze Zeit über bewusst waren. Und wenn er ihre erschütterten Mienen richtig deutete, konnten die meisten von ihnen nicht gut damit umgehen. 
Schließlich erreichten sie Islanzadis Behausung. 
Ohne Umschweife erlaubten die Wachen ihnen einzutreten. Offensichtlich wurden sie bereits erwartet. Im Inneren des Pavillons erwartete die beiden Reiter der Elfenrat, sowie die Königin, die gerade vor einem Spiegel stand. In den Tiefen der glitzernden Oberfläche zeichnete sich das Bild von Nasuada und dem Führungsstab der Varden ab. Bei ihrem Eintreten wandten sich alle Anwesenden ihnen zu und Oromis setzte zur Begrüßungsformel an, während Karis gerade stehen blieb. 
Seine Aussage zu den Höflichkeiten der Elfen, die er den Mitgliedern des Kronenrates gegenüber mehrfach zum Ausdruck gebracht hatte war, er befand sich nicht in ihrem Hoheitsgebiet, er war kein Elf und unterstand auch nicht ihrem Befehl. Also warum um alles in der Welt sollte er sich an ihre Höflichkeitsfloskeln gebunden fühlen? Einige der Elfen hatten ihn deswegen etwas herablassend angesehen, doch aufgrund seines Status als Drachenreiter war eine so geringe Unhöflichkeit seiner Meinung nach verzeihbar. Und wenn gewisse engstirnige Individuen beschlossen deswegen schlecht von ihm zu denken, dann sollten sie ruhig. 
Deren Meinung von ihm war ihm nun wirklich nicht wichtig.
Nachdem der ältere Reiter die Formalitäten beendet hatte, wandte sich die Königin an ihn und begrüßte auch ihn kurz. „Ich freue mich zu sehen, dass ihr den Angriff unbeschadet überstanden habt, Schattenläufer.“ Zustimmendes Gemurmel ertönte aus dem Spiegel. „Vielen Dank, eure Hoheit.“, antwortete er. „Ich hoffe die Verluste unter eurem Volk waren nicht allzu schlimm.“ 
Letzteres fügte er nur hinzu um höflich zu sein und ihr eine Brücke zu schlagen um den Varden ein genaueres Bild von dem Angriff zu geben. Soweit er wusste waren sie bis jetzt nur über die Anzahl an Toten informiert worden. 
Das hatte zwar gereicht um ihren Verbündeten vor der Gefahr zu warnen, aber dennoch waren detailliertere Informationen notwendig. Daher verbrachte Karis nachdem die Elfenkönigin ihn darum gebeten hatte, eine halbe Stunde damit, unterstützt von Oromis den Anführern der freien Völker ein genaues Bild von den Fähigkeiten ihrer Feinde zu liefern. Zwar wussten die Varden bereits von den Schwächen von Ecros Schöpfungen, jedoch konnte es nicht schaden sie noch einmal an die möglichen Fähigkeiten und finsteren Fallen zu erinnern, die im Inneren der meisten der Ungetüme lauerten. 
„Wie es scheint, hat diese Madenbrut seine Kreaturen stärker gemacht nach seiner Niederlage in der roten Stadt.“, knurrte Nar Garzhvog nachdem der Schattenläufer geendet hatte. Kurz herrschte Verwirrung in den beiden Zelten bis den anderen klar wurde, dass er sich auf die blutgetränkten Überreste Belatonas bezog. „Ich kann mich nicht erinnern, dass die Kreaturen, die wir dort bekämpft haben über derartige Fähigkeiten verfügten.“ Ein beiläufiges Nicken begleitete die Worte des Anführers der Urgals. „Das stimmt.“; pflichtete Murtagh ihm bei. „Die Kreaturen damals waren zwar auch brutal und gefährlich, aber die meisten von ihnen hatten offensichtliche Waffen und waren nicht so heimtückisch.“ „Ich nehme an, dass diese Niederlage der Grund für seine neue Schöpfungen war.“; vermutete Oromis. „Ihm muss klar geworden sein, dass er um uns alle zu besiegen, hinterhältiger kämpfen muss und nicht härter.“ 
„Das kann aber nicht der einzige Grund für diesen Angriff gewesen sein.“; unterbrach Karis die allgemeine Zustimmung die den Worten des Letzten des alten Ordens folgte. „Wie kommt ihr darauf, Schattenläufer?“, fragte die Elfenkönigin. Nachdenklich fuhr sich der jüngere Reiter durch seine widerspenstigen grauen Haare. „Weil das Ganze sonst keinen Sinn ergibt. Ecros hat nur ungefähr 100 Chimären hierhergeschickt. Ich stimme Oromis zwar zu, dass diese neuen Kreaturen das Resultat seiner letzten Niederlage sind, aber welchen Sinn hat es uns mit einer unzureichenden Streitmacht anzugreifen, deren Niederlage von vornherein feststeht? Damit verschwendet er nur Ressourcen.“ Nachdenkliches Schweigen breitete sich in den beiden Zelten aus. 
„Vielleicht ein Ablenkungsmanöver?“, schlug Nasuada schließlich vor. „Wenn er noch mehr dieser Kreaturen befehligt, könnte es sein, dass er versucht die Elfen dazu zu bringen ihre Verteidigung zu stärken um ihre Vorankommen zu verlangsamen und uns daran zu hindern unsere Kräfte zu vereinen, damit er uns einzeln auslöschen kann.“ Das war ein beunruhigender Gedanke. Sollte das sein Ziel gewesen sein, konnte man mit Sicherheit davon ausgehen, dass es schon bald zu einem Angriff auf die Streitmacht der Varden, Urgals und Zwerge kommen würde. Unangenehmes Schweigen breitete sich jenseits des Spiegels in dem Kommandozelt der Varden aus. 
„Das bedeutet unsere Stellungen könnten jeden Moment von den abscheulichen Schöpfungen von Karis Lehrmeister angegriffen werden. Während sich der Reiter, der sie am besten kennt, bei den Elfen aufhält. Das ist eine Katastrophe.“ 
Wie so oft, bereitete die Stimme des Monarchen Surdas dem Schattenläufer Kopfschmerzen, denn auch wenn das was er sagte Sorge um ihre Streitmacht implizierte, verriet sein Tonfall ebenso wie die Bemerkung, dass Sereths Reiter von Ecros ausgebildet worden war, dass er den Halbschatten in gewisser Weise mit dafür verantwortlich machte. „Das kann nicht sein. Dazu verfügt er nicht über die notwendigen Reserven.“ Entschlossen schnitt der Schattenläufer dem Herrscher das Wort ab. 
„Ecros hatte nach seiner Niederlage in Belatona höchstens zweieinhalb Monate Zeit um die Reihen seines Heeres aufzufüllen. Das schlimmstmögliche Ergebnis, wenn er ohne Unterbrechung gearbeitet hat, wäre dass er inzwischen über knapp 150 Chimären verfügt. Mit den Verlusten, die er letzte Nacht erlitten hat, verfügt er in keinster Weise mehr über die notwendige militärische Stärke um euch herauszufordern. Also müsst ihr euch keine Sorgen machen König Orrin“, fügte er mit einem gehässigen Seitenblick hinzu, „euer gekröntes Haupt muss sobald noch nicht auf einem neuen Schlachtfeld erscheinen.“
Erbost funkelte der Monarch den Reiter an. 
„Es ist nicht mein Haupt um das ich besorgt bin. Ich sorge mich um die Sache, der wir alle hier unser Leben verschrieben haben. Natürlich ist das etwas, das ein Individuum, welches sich während des Großteils von Galbatorix Herrschaft in der Wildnis versteckt hat, nicht nachvollziehen kann.“ Gleichgültig erwiderte der Schattenläufer den Blick, bevor er sich einfach abwandte. 
Ohne die Herausforderung, die in den Worten des Königs versteckt war zu beachten, meinte  er zu Nasuada. „Und deshalb, bin ich der Meinung, dass hinter Ecros Angriff noch mehr stecken muss. Jetzt wo seine Reserven so geschrumpft sind, würde ein solcher Angriff auf einen von uns keinen Sinn machen. Es wäre klüger abzuwarten, bis er wieder eine solche Anzahl wie in Belatona versammelt hätte.“ 
Die Anführerin der Varden warf Orrin, der aufgrund der Tatsache, dass der Reiter ihn einfach überging, rot angelaufen war einen besorgten Blick zu, ehe sie antwortete „Ich verstehe euer Argument, doch woher wisst ihr so genau, dass die größte Anzahl an möglichen Feinden bei 150 liegt?“ Karis zuckte mit den Schultern. „Weil die Erschaffung einer Chimäre sowohl eine enorme Energiemenge erfordert, als auch eine beträchtliche geistige Konzentration. Und da Ecros im Moment alleine und ohne Verbündete dasteht, wenn auch mit einer geisteskranken Elfe auf seiner Seite, dürfte es ihm wohl kaum möglich sein so ohne weiteres ein neues Heer aufzustellen.“ 
Ein Zucken lief bei der Erwähnung der abtrünnigen Elfe durch die Reihen der Adligen, doch das beachtete der Schattenläufer nicht, sondern fuhr ungerührt fort: „Also weshalb riskiert er alles, bei einem Angriff bei dem er nur verlieren kann?“ 
„Er muss ein höheres Ziel im Sinn haben, das wir bis jetzt nicht erkennen können.“, stimmte die Elfenkönigin ihm nachdenklich zu. Angespannt stemmte Islanzadi ihre Hände vor sich auf den Tisch auf dem eine Karte Alagaesias ausgebreitet war und auf dem auch die Truppenbewegungen sowohl ihrer Verbündeten als auch die ihrer Feinde aufgeführt waren. „Doch welches? Für welches Ziel hat der Schattenelf es auf sich genommen einen solchen Verlust hinzunehmen und so viele seiner Kreaturen zu opfern?“

Der Weiße SchattenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt